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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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alle meine Jahr«, und jetzt kam es, jetzt fügte es sich. Er arbeitete, er war glücklich.Während er bei der Arbeit saß, erhielt er unerwarteten Besuch: Ilse Benjamin.
    Ja, es war Ilse, aber war sie es wirklich? Der wiederholte Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung, die Gewißheit, daß sie eine Aufgabe hatte, die Vorstellung, wie ihr Fritzchen im Gefängnis der Nazi hockte, auf ein klägliches Ende wartend, nicht wissend, daß ein großer Teil der zivilisierten Welt aufgeboten war, ihm zu helfen, alle diese Erlebnisse hatten ihr ein neues Gesicht gegeben. Aus der kostbaren Puppe von vor einem halben Jahr war ein Mensch geworden. Manchmal, wenn sie in den Spiegel schaute, fragte sie sich verwundert: »Meine Güte, bin das ich?« Und das kleine Lächeln, während sie sich das sagte, und der sächsische Tonfall, das freilich war die frühere Ilse.
    Die Nachricht von Annas Tod hatte sie erschüttert. Sie hatte die Gründe, welche die Frau getrieben haben mochten, nicht bis ins letzte durchschaut, aber sie wußte, daß die Änderung bei den »P. N.« und dieser Tod auf dunkle Art mit Sepps Redaktionstätigkeit und seinem Kampf für Fritzchen zusammenhing. Dadurch fühlte sie sich, wenn auch unwillentlich und unwissentlich, in Sepps Unglück hineinverstrickt.
    Sie suchte ihn auf, um ihm zu zeigen, daß sie mit ihm leide.
    Ihn verdroß die Störung seiner Arbeit. Sein erster Impuls war, sie durch mürrisches Gehabe rasch zu vertreiben. Als er jedoch ihr lebendiges Gesicht sah, ging ihm, zum erstenmal, ganz auf, wie sehr sie sich verändert hatte. Er sagte sich, er habe dieser Frau unrecht getan, und ließ von seinem Vorsatz ab.
    Wortkarg indes blieb er, und auch sie sprach nicht viel. Sie saß da und rauchte – sie hatte sich in der letzten Zeit angewöhnt, immer zu rauchen –, und sie sagte etwa: »In Fällen wie in diesem erkennt man, daß wir Emigranten, ob wir wollen oder nicht, miteinander verknüpft sind. Was den einen trifft, trifft alle.« Auch sagte sie: »Keiner von uns ist unschuldig, wir sind alle schuld, alle an allem.« Und dann, noch später, sagte sie: »Manchmal spürt man, daß wir zu klein sind für unser Schicksal.«
    Doch als sie dieses letzte sagte, war Sepp mit seinen Gedanken schon nicht mehr da, er nahm ihre Worte nur mit dem Ohr auf, sie drangen nicht mehr in sein Bewußtsein. Ilse hatte ihren Satz von der Schuld vor sich hin gesagt, vag, ohne an bestimmte Handlungen oder Reden zu denken, die er oder sie getan oder geführt haben könnten. Ihn aber hatten ihre Worte angerührt, sie hatten plötzlich einen Gedanken in ihm wach werden lassen, der die ganze Zeit her in ihm geschlummert und ihm das Leben in diesen letzten Tagen vergällt hatte.
    Ja, ja, ja, er war schuldig. Nicht den Leuten von der »P. D. P.« war er verpflichtet, aber da war ein anderer, der was von ihm zu fordern hatte, dieser Friedrich Benjamin. Er hatte sich viele schöne Dinge vorgemacht, als er zu seiner Musik zurückkehrte, aber das war alles Humbug; um den eigentlichen Kern der Sache war er herumgegangen wie die Katze um den heißen Brei, und sein tiefes, besseres Ich hatte das von Anfang an gewußt. Er hatte einfach desertieren wollen, er war desertiert, aber jetzt hatte man ihn gefaßt. Er ist davongelaufen, mitten aus der Schlacht, er hat sich drücken wollen.
    Ja, ja, ja. Und diese seine Schuld, die stammte nicht erst aus den letzten Tagen. Er hat sich’s bisher nicht eingestehen wollen, jetzt aber weiß er’s: Er war Deserteur geworden schon in dem Augenblick, als er die Meldung las von der ungünstigen Zusammensetzung des Schiedsgerichts. In jenem Augenblick hat ihn die Mutlosigkeit gepackt, da hat er die Flinte ins Korn geschmissen, da hat er in seinem geheimen Innern den Entschluß gefaßt, zu desertieren. Damals hat er innerlich den Kampf gegen die Nazi aufgegeben, mit einer gewissen Erleichterung, wie er sich jetzt einbekennt. Damals hat er Friedrich Benjamin und die Sache der Emigration im Stich gelassen, verraten. Alles wird ihm jetzt klar. Hätte er damals, in jenem Augenblick der Panik, nicht den Entschluß zur Feigheit gefaßt, dann hätte er sich anders verhalten vor Gingold, vor Heilbrun, vor Anna, vor sich selber. »Der schwache Mann stirbt, und der starke Mann ficht.« Er ist weder gestorben, noch hat er gefochten: Er, der feige Mann, hat andere für sich sterben lassen.
    Die frühere Ilse, verwundert und vielleicht auch verdrossen über die Schweigsamkeit des Mannes, hätte ihn durch allerhand

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