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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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sehen, daß ihn seine Tätigkeit nicht befriedige. Wahrscheinlich merke er, daß die formale Demokratie, an die er sein Herz gehängt habe, eine läppische Farce sei, daß das Ziel, für das er kämpfe, nicht lohne, und sehne sich zurück nach seiner Musik. Aber er komme nicht los von seinen hohlen, abgelebten Idealen. »Dabei ist doch Sepp keineswegs dumm«, empörte sich einmal Hanns vor dem Buchbinder. »Es gibt vieles, über das er kräftig und grundgescheit schreiben kann. Immer wieder denkt man, es muß doch möglich sein, ihm das klarzumachen, was jeder einfache Mensch ohne weiteres begreift. Aber es ist nicht möglich. Es ist aussichtslos. Wer nicht sehen will, dem hilft kein Licht und keine Brille«, schloß er resigniert.
    Vater Merkle war in dem großen Raum auf und ab gegangen. Nun der Junge zu Ende gesprochen, blieb er vor ihm stehen, schaute ihm mit seinen hellen, kleinen Augen gerade ins Gesicht, lächelte gutmütig unter dem starken, weißen Schnurrbart. »Gewisse Dinge kann er gar nicht sehen wollen, dein Sepp«, sagte er. »Es hat seine Gründe. Er kann sie nicht aufgeben, seine Demokratie, ohne sich selber aufzugeben.«
    Wieder ging er auf und ab, seine Sätze kamen langsam, mit Pausen. »Er gehört mit Haut und Haar dem neunzehnten Jahrhundert, dein Sepp«, meditierte er. »Im neunzehnten Jahrhundert hat sich in gewissen Grenzen das verwirklichen lassen, wovon jetzt nur mehr der Name da ist, Freiheit der Wissenschaft, des Denkens, der Presse, kurz, das, was man gemeinhin hier im Westen unter Demokratie versteht. Damals brauchte das hochkommende Bürgertum für den Sieg seiner Wirtschaft über den Feudalismus das Prinzip der freien Konkurrenz, den liberalistischen Kapitalismus, und als notwendige Ergänzung die sogenannten demokratischen Freiheiten. Aber es war eine einmalige Konstellation, sie konnte nicht dauern. In dem Augenblick, in dem der liberale Kapitalismus abgelöst wurde von den Trusts, vom Monopolkapital, verloren die sogenannten demokratischen Freiheiten ihre Basis. Jetzt hängen sie in der Luft und enthüllen sich als das, was sie im Grunde immer waren, als blauer Dunst. Kapiert?« fragte er.
    »Was Sepp unter Demokratie versteht«, erwiderte Hanns, »das war im neunzehnten Jahrhundert möglich, aber eben nur im neunzehnten Jahrhundert. Das wollen Sie sagen?« – »Genau das«, antwortete vergnügt Vater Merkle, »das hast du nicht schlecht ausgedrückt. Heute hat in den faschistischen Staaten das Monopolkapital die ›demokratischen Errungenschaften‹ schlicht und sachlich zum Kehricht geworfen, und bei uns hat man sie so ausgehöhlt, daß eben nur mehr ihr Name da ist. Das will natürlich Monsieur Sepp Trautwein nicht begreifen. Wie sollte er auch? Sein ganzes Besitztum an Weltanschauung ist seine Demokratie. Die gibt er nicht her.«
    Hanns starrte vor sich hin, den Blick nach innen, trüb, er schaute jetzt so versunken und mürrisch wie manchmal Sepp. »Noch vor drei oder vier Jahren«, sprach sich Vater Merkle weiter aus, »hat es in Deutschland eine Menge Kleinbürger gegeben, die hüteten und horteten ängstlich ihre wertlosen Tausendmarkscheine aus der Inflation. Sie gründeten Vereine, sie kamen sich reich vor und als die heimlichen Herrendes Landes. Als dann ihr letzter Prozeß und ihr Geld unwiderleglich verloren war, da hat sich eine ganze Anzahl von ihnen umgebracht. Genauso glauben jetzt noch ganze Scharen kleinbürgerlicher Idealisten an ihre Scheinfreiheit. Sie wollen es nicht begreifen, daß diese Freiheit nichts ist als ein Fetzen Papier, solange keine wirtschaftliche Freiheit dahintersteht. Vor der neuen wirklichen Freiheit halten sie sich die Augen zu. Sie ist ihnen zu groß, zu kahl, zu unbequem, diese Freiheit. Sie wollen blind bleiben, sie wollen ihren Privatbesitz an verstaubten Ideologien nicht enteignen lassen.«
    »Aber was soll man mit diesen Leuten machen?« fragte Hanns.
    Der Buchbinder ging ganz nah an den Jungen heran und legte ihm, solche Vertraulichkeit war sonst nicht seine Sache, die knöchernen, gutgebildeten Hände sanft auf die Schultern. »Geduld tut not«, sagte er. Es bezogen sich aber diese Worte offenbar nicht auf Hanns allein, sondern auf uns alle, Genossen dieser Zeit des Übergangs und vielfacher Verwirrung.
    So zugesperrt Hanns den Sinn vieler Menschen der vorigen Generation fand, so leicht konnte er sich mit den meisten seiner Altersgenossen verständigen. In seinem antifaschistischen Jugendverband hatte er viele Freunde, die ihm fest

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