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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Horaz-Oden. Und dann wieder schrieb er derbe, geradezu vulgäre politische Artikel,und so aktivistisch Primitives wie diese Walther-Lieder. Es war beunruhigend, daß der gleiche Mann so Verschiedenartiges machen konnte. Das stellte eine Reihe von Ergebnissen wieder in Frage, zu denen man glücklich gekommen war. Die Walther-Lieder waren populär und schienen trotzdem gut. Von dem Mann am Flügel schaute Raoul auf Tschernigg, seinen neuen Freund, der neben ihm saß. »Was halten Sie von dieser Musik?« fragte er ihn flüsternd. Tschernigg wandte ihm das Gesicht zu. »Knorke«, erwiderte er, feixend, und diesmal merkte Raoul, daß er ihn und sein Lieblingswort verulkte.
    »Ja, wenn Herr Walther kröche.« Alle hörten zu, angeregt. Sepp Trautwein, das war den meisten von diesen Leuten ein Name gewesen, nicht mehr; dunkel erinnerte sich der eine oder andere, daß der Träger dieses Namens in dem Kampf um die Befreiung des entführten deutschen Journalisten, wie hieß er doch?, eine Rolle spielte. Jetzt aber zeigte sich, daß dieser Sepp Trautwein nicht nur ein politischer Agitator war, sondern ein wirklicher Musiker. Sonderbar. Der Mann brauchte sich doch nur ernsthaft daran zu halten, und er hätte mit seiner Musik überall in der Welt Erfolg. Statt dessen verbrachte er seine Zeit damit, Artikel zu schreiben für ein Blättchen der deutschen Emigration. Merkwürdige Menschen, diese Emigranten. Da jagen sie ihrer Heimat nach, die sie doch nicht will, und kämpfen, ohnmächtig und ein bißchen lächerlich, gegen einen riesigen Staat und seinen Apparat, statt daß sie ihre Musik machen oder was sie sonst können. Denn zu können scheinen sie was.
    Für alle war Sepp ein anderer Mann nach den Walther-Liedern. Man umdrängte ihn, bemühte sich um ihn. Er war nicht liebenswürdig und redete seinen Hörern nicht zu Munde, er gab sich gemessen. Gerade dadurch aber, daß ihm sichtlich wenig daran lag, sie zu gewinnen, warben sie, diese Kollegen, Kritiker, Journalisten, um so heftiger um ihn. Die Rundfunkleute vor allem versuchten sogleich, einen Abend festzulegen, an dem die Walther-Lieder für ihren Sender gesungen werden könnten.
    Sepp neigte sonst nicht zur Menschenfeindlichkeit, heut indes blieb er mürrisch inmitten seines Erfolges. Wie hätte sich Anna gefreut an diesem Abend, sagte er sich grimmig. Sie hat also wieder einmal recht gehabt: alles hängt ab von Empfehlungen, Beziehungen, vom Zufall, alles ist Schwindel.
    Er wollte noch nicht schlafen gehen und forderte Tschernigg auf, mit ihm noch eine Stunde irgendwo zu sitzen. Tschernigg nahm erfreut an.
    Sepps Musik hatte ihn aufgerührt. Die Walther-Lieder hatten wenig von dem, was ihn früher an der Musik des Freundes angezogen hatte, da war nichts mehr von jenem Kristallenen, »Klassischen, Mathematischen«. Es kam da ein neuer, kühner, aufrührerischer Sepp Trautwein zum Vorschein. Tschernigg hatte Sepp oft einen Kleinbürger gescholten und sich über ihn lustig gemacht; aber die Rebellion, die aus den Walther-Liedern herausklang, so einfach sie war, so primitiv, so wenig artistisch: kleinbürgerlich war sie nicht. Der rebellische Geist hatte wohl immer in Sepp gesteckt, aber es hatte günstiger Bedingungen bedurft, bis er durchbrechen konnte. Die günstigen Bedingungen waren jetzt da und hatten das Schlechte an Sepp zurückgedrängt und das Gute freigelegt.
    Ja, der Mann hat sich verändert. Fünfundvierzig Jahre lang hat er sich genährt von dem Korn und dem Fleisch des Landes Oberbayern; seit zwei Jahren ergänzt und ersetzt er das, was er von seinem Körper aufzehrt, durch Korn und Fleisch und Wein und Frucht französischen Bodens. Wie der Leib des Freundes das alles aufgenommen hat, sich ändernd und trotzdem der gleiche bleibend, so hat sich eben allmählich auch sein kräftiger, aber langsamer münchnerischer Geist bequemt, einiges Fremde, Rebellische zu empfangen.
    Auch er, Tschernigg, hatte sich geändert, aber es war eine traurige Änderung. Ja, Tschernigg hatte aus den Walther-Liedern sich selber herausgehört, seine eigene Jugend, seine freche, scheußliche, stolze, erbarmenswürdige, strahlende Jugend. Mit dieser Jugend war es aus, ein für allemal, seitdem ersich aus der Emigrantenbaracke in die bürgerliche Geborgenheit seines französischen Verlags gerettet. Der Übergang war geglückt, keine Frage. Er hatte etwas wie Erfolg, man hielt ihn für einen guten Kenner und bezahlte seine Kennerschaft, der Fink hatte wieder Samen. Aber seine Verwandlung

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