Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
das Material zu dem Stichwort Xanthippe in Schrank 6 des Seminars liegt, bei den alten Akten. Sie werden nach Deutschland zurückkehren, und die Schatten der Athenerin Xanthippe und des Hyperboreers Ringseis werden es Ihnen danken, wenn Sie das Material aus Schrank 6 einem Fachmann übergeben. Denn ich werde den Artikel über Xanthippe ja nun leider kaum mehr fertigmachen können. Ich hatte gehofft, die Arbeit trotz meiner unzulänglichen Hilfsmittel noch hier in Paris abzuschließen. Das ist jetzt mehr als fraglich geworden. Es ist auch fraglich, ob sich das Material im Seminar wirklich noch vorfindet. Und fraglich ist es schließlich, ob selbst in diesem günstigsten Fall der beizuziehende Fachmann den Artikel in meinem Sinne schreiben wird. Sehr möglich also ist es«, schloß er trüb, »daß Xanthippe noch durch mehrere Jahrhunderte wird ungerettet bleiben müssen.
Wenn Sie in Deutschland zurück sein werden«, fuhr er fort, noch ehe Sepp antworten konnte, »und wenn Sie dannauf meinen Neffen stoßen sollten, den gewissen Günther Ringseis, der, wie Sie wissen, mir allerlei Unannehmlichkeiten zugefügt hat, dann kümmern Sie sich vielleicht ein wenig um ihn. Er ist kein angenehmer Geselle, und ich verstehe auch, daß ihr, wenn ihr zurückkommt, gewillt sein werdet, zu strafen. Odysseus, als er zurückkehrte, hat die Freier nicht verschont. Immerhin, wenn Sie auf ihn stoßen sollten, denken Sie daran, daß ich selber ihm nichts nachtrage.«
Mit den blassen, vorquellenden Augen schaute er Sepp hilflos, dringlich an, der verfallene Greisenschädel inmitten des ungepflegten Schifferbarts lag groß auf dem nicht sehr saubern Kissen. »Sie werden mich heute vielleicht ein wenig nervös finden, mein Sohn«, entschuldigte er sich mit einem kleinen, mühsamen Lächeln, »und Sie haben recht. Es stellt sich heraus, daß ich mich leider selber nicht zur Genüge mit der Lehre durchtränkt habe, die ich Ihnen immer verkündete. Ich sollte gelernt haben, zu warten, und es dürfte mir nicht leid sein, wenn nun auch Xanthippe noch ein paar Jahrhunderte länger sollte warten müssen. Aber es ist mir leid. Ich bin unseligerweise von hitzigem Temperament, ja, ich muß mich selber bezichtigen: ich bin ganz kribbelig.«
Er war wirklich erfüllt von einer tiefen Unruhe. Mehrmals fragte er Sepp, ob der genau verstanden habe, wo das Material über Xanthippe liege, und Sepp mußte ihm die Beschreibung wiederholen. Er versprach alles, was der Alte wünschte, tat aber dessen Befürchtungen mit der gebotenen Zuversichtlichkeit ab. Natürlich, erklärte er bestimmten Tones, werde Ringseis seinen Artikel vollenden und, nach Deutschland zurückgekehrt, sich selber des Manuskriptes und seines Neffen annehmen. Allein seine Tröstungen verfingen nicht, und er ging gepreßten Herzens.
Auch dieser ruhige, alte Mann also, dessen Geduld einen schon beinahe lächerte, brachte es nicht über sich, bis zum Ende zu warten. Die Lehre vom Warten war ein Schmarrn, das Leben wäre nicht lebenswert, wenn man es verwarten wollte.
Wenn schon der alte Ringseis »kribbelig« wurde, wie begreiflichdann war seine eigene Ungeduld. Die Frist, die er sich gesetzt hat, hält ihn zum Narren. Diese verfluchten Nazi zögern ihr Schiedsgericht hinaus bis zum Jüngsten Tag. Nie wird er dazu kommen, den »Wartesaal« zu schreiben. Es ist, wie wenn man die Linie erreichen wollte, wo sich Meer und Horizont berühren; je weiter man fährt, der Horizont dehnt sich mit der Fahrt, und ewig unerreichbar verschwimmt er. Wäre nur dieser Fall Benjamin zu Ende, so oder so.
Immer heftiger, immer grimmiger dachte er dieses gräßliche So-oder-so, kein Selbstvorwurf half dagegen. Der Wunsch, der Fall Benjamin möge zu Ende sein, so oder so, nahm Besitz von seinem ganzen Wesen.
Als Hanns auf dem Sowjetkonsulat erfuhr, daß sein Gesuch genehmigt sei und er in den nächsten Wochen werde abreisen können, war seine Freude nicht so groß, wie er erwartet hatte. Er hatte diesen Augenblick in seiner Vorstellung schon zu oft vorweggenommen. Ja, als er die schmale, gewundene Rue de Grenelle, an der das Konsulat lag, hinaufging, beschäftigte ihn mehr als die Freude auf sein neues Leben die Sorge, sein altes auf saubere, anständige Art zu beenden.
Da war zum Beispiel die Sache mit Germaine, beziehungsweise mit Madame Chaix. Schon das wußte Hanns nicht recht, ob sie für ihn noch Germaine war oder wieder Madame Chaix. Er hätte sich längst bei ihr entschuldigen müssen wegen jener
Weitere Kostenlose Bücher