Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
der er mir verholfen hat. Ich hab ihm also verdammt viel zu danken. Aber erstens ahnt er davon nichts, und zweitens, wenn er dankbar ist, ich bin es halt nicht. In Zukunft wird mir dieser ganze Friedrich Benjamin mit seinem Martyrium und seiner Sendung weder widerwärtig sein noch lieb, sondern einfach Wurst.
»Na also prost, Herr Nachbar«, sagte er und trank ihm zu.
16
Lukas 21, 26
Aus dem Coq d’Argent zurückgekehrt, arbeitete Sepp am »Wartesaal« weiter, verbissen, langsam, selig und fluchend, umständlich und beflügelt. Niemals hatte er das Glück und die Qual der Arbeit so von innen her gespürt wie zu dieser Zeit, da er über der Sinfonie saß.
Er wandte sich hastig vom Klavier zum Schreibtisch, pfiff durch die Zähne, spielte, lief auf und ab, schrieb. Er hörte das Ticken der Uhr, es wurde ihm Musik. Er hörte das Gestümper des »Schusters« von nebenan, fluchte, biß die Zähne zusammen, arbeitete weiter. Im Geist stritt er sich mit Anna über Einzelheiten: ob diese Stelle noch immer nicht rein und locker genug, ob jene noch immer zu glatt sei oder ob jene dritte noch immer »schwitze«.
Er machte eine Pause, kochte sich Kaffee, saß in dem Wachstuchsessel, dachte, summte, krähte. Mit der wohlwollendenVerachtung des gleichgültigen Betrachters dachte er an Friedrich Benjamin, den Prediger mit der Melone auf dem Kopf und der Zigarre im Maul. Der Prediger sah die Prophezeiung des Evangelisten schon der Erfüllung nahe, er sah den Menschensohn bereits kommen in der Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Er, Sepp, war noch nicht soweit. Er sah nur das sich erfüllen, was für die Zeit vorher verkündet war: »Und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und vor Warten der Dinge, die da kommen sollen!« Ihn drängte es, die Unerträglichkeit dieses Wartens zu malen und zum Tönen zu bringen, auf daß die Menschen diese Unerträglichkeit recht spüren und auf daß sie nicht länger warten, sondern das Ihre dazu tun, dem Unerträglichen ein Ende zu machen.
Was der Kapuzinerprediger mit seinem Eisernen Kreuz und seiner Melone und seinen Bertha-von-Suttner-Träumen schreibt und redet und treibt und werkelt, das ist, bei aller guten Absicht, nichts als heroische Geschaftelhuberei. Es hat keinen Sinn, davon zu träumen, wie es sein sollte und wie schön es sein könnte.
Auch die Sorgen und Ängste, die sich Anna machte, haben keinen Sinn gehabt. Was für ein Jammer, daß sie den Löffel weggeworfen hat, daß sie sein Heute nicht erlebt hat, die Walther-Lieder, das Konzert bei Madame de Chassefierre, Benjamins Rückkehr und jetzt gar den »Wartesaal«. Sie hätte begriffen, was für einen Weg er zurückgelegt hat. Seine Kunst ist »Nur-Kunst« gewesen, zwecklose Kunst, grundlose Kunst und also krank. Jetzt ist er gesund geworden. »Er schreibt Brokat«, hat Gottfried Keller von Conrad Ferdinand Meyer gesagt. Er, Sepp, schreibt jetzt keinen Brokat mehr.
Ist er denn schon soweit? Gibt er sich nicht schon wieder zu schnell zufrieden? Anna würde ihm den Standpunkt klarmachen. Anna, mit ihrem guten Mundwerk, würde ihm die Ohren vollblasen, was alles noch fehlt. Der Schluß zum Beispiel fehlt noch so gut wie ganz. Für den Schluß braucht man den Glauben. Denn soviel ist klar: der Zug, der lang erwartete,der muß am Schluß kommen. Wenn nicht, dann bricht der Bogen in der Mitte ab, dann ist die Sinfonie wirklich eine »Salle des Pas-Perdus«, eine Brücke, die ins Nichts führt.
»Machen« könnte er den Schluß. Er versteht seine Technik, er könnte ein Ungefähr in die verdammten fünf Linien des Notenpapiers zwingen, daß es was gleichsieht und daß der Schwindel für das Publikum einen Abend standhielte. Aber was wäre damit gewonnen?
Er ließ ab von dem Geträume, ging wieder an die Arbeit, machte sich daran, Halbfertiges zu überfeilen. Aber es war unlustige Arbeit, der Schwung war fort. Er war froh, als Hanns kam und er einen innern Vorwand hatte, abzubrechen.
»Wie weit bist du jetzt mit dem ›Wartesaal‹?« fragte Hanns. »Es wird wohl noch seine Weile dauern«, erwiderte Sepp. »Glaubst du, daß du Mitte Oktober fertig bist?« fragte Hanns weiter. Sepp, etwas erstaunt, zuckte die Achseln. »Schade«, erklärte mit Anlauf, ein wenig täppisch, der Bub, »dann werde also ich die Sinfonie kaum mehr zu hören kriegen.«
»Mitte Oktober also fährst du?« vergewisserte sich Sepp. Seine Stimme klang mühsam; das Zimmer war reichlich dunkel, aber er machte kein Licht. »Ja«, antwortete Hanns,
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