Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Rednern keine Lüge zu dumm, keine Verdrehung zu dreist, sie stellten sich hin und spien sie ihrem in Nürnberg versammelten Pöbel ins Gesicht.
Es gipfelte aber dieser Parteitag des Jahres 1935, der sogenannte »Reichsparteitag der Freiheit«, in dem Erlaß eines »Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«. In diesem Gesetz war Juden der Geschlechtsverkehr mit »Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes« bei Zuchthausstrafe verboten.
Welche Flut von Unheil dieses Gesetz über zahllose deutsche Menschen, keineswegs nur Juden, bringen sollte, konnten, als sie es verkündet hörten, nur wenige ganz ermessen, viele aber ahnten es. Es war ein Gesetz, das Zehntausenden Verderben und seinen Urhebern nur wenig praktischen Nutzen bringen konnte; es war ein Gesetz, dessen Vater der Haß war und dessen Mutter die Dummheit.
Bei Julian Zarnke waren am Abend des Tages, da das Gesetz verkündet wurde, ein paar Freunde um den Rundfunkapparat versammelt. Peter Dülken war da, der Sänger Donald Percy, auch ein deutscher Arbeiter, ein gewisser Kaspar Thudichum, dem es nach vielmonatigem Aufenthalt im Konzentrationslager geglückt war, über die Grenze zu entkommen. Der ruhige, schwerfällige, nachdenkliche Mann hatte Zarnkes Rat gebraucht, und Zarnke, menschengierig, wie er war, hatte an ihm Gefallen gefunden.
Da saß man und hörte das Gegröl und Gegeifer, das die Naziführer durch den Äther sandten. Zwischen den Kirschgläsern, Kaffeetassen, Tellern und Platten mit Süßigkeiten lag die letzte Nummer des »Völkischen Beobachters«; feist auf der ersten Seite grinste der Schädel des Nürnberger Gauleiters, großohrig, kleinäugig, hinterkopflos, beglatzt.
Zarnke ruderte durchs Zimmer, den Teppich mit Zigarrenaschebestreuend. »Da werden jetzt«, meinte er, »viele mit Juden verheiratete Frauen Schlange stehen, um zu beschwören, daß ihre Kinder Früchte eines Ehebruchs sind. Ich begreife nicht«, fuhr er fort und schüttelte nachdenklich den fleischigen Kopf, »wie erwachsene, ernsthafte Männer, Richter, Geschworene, nach solchen Gesetzen Recht sprechen und vor allem Volk den dummen August machen. Sie können doch, wenn sie sich stellen, als ob sie so was ernst nähmen, auch keine Autorität mehr in ihren Familien haben.« Autorität. Familie. Unter seinem dicken, schwarzen Schnurrbart war ein etwas verzerrtes, amüsiertes und trauriges Lächeln; er dachte an seinen Sohn, seinen Robert, wie der jetzt wohl große Worte machte, um endgültig den Schritt zu vollziehen zwischen sich, dem Dreiviertelarier, und seinem Vater, dem Mischling.
»Warum sie nur«, fragte der Sänger Nath Kurland, jetzt Donald Percy, »einen so sinnlosen, infernalischen Haß gegen die Juden haben?« Er sprach vor sich hin, unbekümmert um die andern, den Kopf hielt er in die breite, kurze Hand gestützt, seine heftigen, bräunlichen Augen schauten schmerzhaft nachdenklich. »Ich weiß schon«, sinnierte er weiter, »sie wollen das Kapital der Juden, sie wollen die Unternehmungen der Juden für ihre eigenen Leute, sie wollen die Schuld an dem allgemeinen Elend von sich ablenken. Aber das alles könnten sie doch viel einfacher haben. Da brauchten sie doch nicht solche Gesetze zu erlassen, die ihnen keinen Vorteil bringen, die nichts sind als Beschimpfungen, als Beweise eines grenzenlosen, bestialischen Hasses.«
»Sie sollten darüber nicht soviel grübeln«, sagte Peter Dülken und schüttelte die Haare aus der Stirn. »Es gibt eine Menge Gründe. Bedenken Sie zum Beispiel, daß der Primitive seinen schlimmsten Feind in der Vernunft sieht. Der traurige Pöbel, den der Krieg und seine Folgen hochgeschwemmt und zu Deutschlands Herren gemacht hat, glaubt doch nicht an sich selber. Die Burschen spüren doch genau ihren Mangel an Verstand. Sie hassen den Verstand, und dieJuden, mit Recht oder mit Unrecht, gelten ihnen als seine Repräsentanten.«
»Ja«, pflichtete ihm Zarnke bei, »sie hassen im Juden nicht die Minderwertigkeit, sondern die Hochwertigkeit. Mir hat einmal«, erzählte er, »ein deutscher Dorfwirt an der litauischen Grenze Klage geführt über seinen jüdischen Konkurrenten. ›Das ist keine Kunst‹, hat er sich empört, ›gescheit zu sein, wenn einer ein Jud ist.‹«
»Wenn ich den grauenvollen Unsinn höre«, sagte der Sänger Donald Percy, »den das Pack da im Rundfunk von sich gibt, dann begreife ich nicht, daß diesem Pack die gleichen Leute Beifall brüllen, die mir vor zwei Jahren in der
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