Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
nicht, frag ich mich ständig: hätte ich in dieser Situation wirklich so gedacht, so gehandelt?«
Was ist denn? Das alles geht doch den Jungen gar nichts an, das will er ihm doch gar nicht sagen. »Das ist kein Kriterium«, lehnt denn auch Raoul ab, schon etwas abgekühlt. Doch Wiesener kommt aus dem falschen Gleise nicht mehr heraus, und gegen seinen Willen doziert er weiter: »Stimmt, mein Junge, das ist kein Kriterium. Aber mir mußte sich diese Betrachtung wohl oder übel aufdrängen. Ich mußte mich immer wieder fragen: hast du wirklich was von dem Wolf, als der du hier dargestellt bist? Und da, verzeih, muß ich offen sagen: du hast an meinem Zentrum gehörig vorbeigetroffen. Wenn schon die Zoologie herangezogen werden soll, dann paßte für mein Verhalten und wohl auch für mein Gewissen eher der Satz: seid sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen.«
Raoul mittlerweile verglich Monsieur Wiesener mit seinem »Wolf« und fand, daß er den Mann überschätzt habe. Er hatte, während er schrieb, das Bild eines frischen Mannes vor Augen, eines sehr männlichen Mannes. Der Herr indes, der ihm da gegenübersaß, hatte etwas von einer beleidigten alten Jungfer, etwas unangenehm Selbstgefälliges, Larmoyantes.
Wiesener unterdes schwatzt weiter. Er schaut den Jungen unverwandt an, während er so schwatzt, mit immer dem gleichen krampfigen Lächeln. Er ist verzweifelt, er möchte den Jungen festhalten, nur darum redet er. Aber ihm, dem sonst so Wortgewandten, fällt das, was er sagen müßte, einfach nicht ein. Dabei weiß er, daß es ihm einfallen wird, wenn es zu spät ist. Er müßte dem Jungen zeigen, daß ihn das Buch gepackt hat, es hat ihn ja gepackt. Aber sein Ton klingt falsch,er reiht eine Banalität an die andere. Warum denn nur, um Gottes willen, findet er kein einziges von Herzen kommendes und zu Herzen gehendes Wort? Seine Augen hängen an dem Jungen, er liebt ihn, er liebt Lea und sich selber in ihm. Er weiß, er hat jetzt nur mehr Augenblicke, das Richtige zu sagen, und wenn er’s nicht sagt, wenn ihm jetzt nicht noch im letzten Augenblick das Richtige einfällt, dann ist die kostbare Gelegenheit ein für allemal verpaßt.
Es fällt ihm nichts ein, er schwatzt weiter, das Falsche, das Platte.
Raoul merkt, mit welcher Dringlichkeit Monsieur Wieseners Augen auf ihn gerichtet sind. Aber warum nur redet der Mann so gleichgültiges, fremdes Zeug? Einen Augenblick lang drängt es ihn, den Vater einfach zu bitten: Red doch nicht so um die Sache herum. Wenn dir mein Buch nicht gefällt, dann sag mir’s. Und wenn’s dir gefällt, dann sag mir, was ich verpatzt habe und, vielleicht, besser machen könnte. Du verstehst doch was davon. Hilf mir. Doch es steht etwas zwischen ihm und dem Vater, nicht die alten Geschichten, sondern etwas anderes, schwer zu Erklärendes. Vielleicht sind es Leas Eigenschaften in dem Jungen, die den Vater hemmen, so zu ihm zu sprechen, wie er möchte; vielleicht ist es das Nationalsozialistische an Wiesener, das Raoul verhindert, ihn so zu bitten, wie er gern wollte. Wie immer, keiner nützt den letzten, kostbaren Augenblick, er verstreicht, er ist vorbei, und von nun an ist Wiesener für seinen Sohn wirklich nur mehr Monsieur Wiesener, ein gleichgültiger Herr, lebend in einer fremden Welt. Raoul spürt es geradezu leibhaft, wie sich der Vater von ihm entfernt, er sieht ihn kleiner werden, und noch ehe er ihm »auf Wiedersehen« gesagt hat, ist Wiesener endlos weit und für immer von ihm fort.
Wiesener bleibt allein zurück mit der Erzählung »Der Wolf«. Er starrt auf die Tür, die sich hinter Raoul geschlossen hat. Lea ist fort, Raoul ist fort, das Bild ist fort. Alles, was Wiesener von seinen Nächsten bleibt, ist das Buch.Spitzi machte Wiesener einen Abschiedsbesuch. Er war im Begriff, auf längere Zeit nach Berlin zu gehen. »Ich will«, erklärte er, »einmal gründlich an Ort und Stelle herumhören und herumschauen, was eigentlich los ist.« Er will einkassieren, sagte sich im stillen Wiesener; er selber hätte es nicht anders gemacht.
Spitzi strahlte wie in seiner besten Zeit. Aber jetzt war es ein merkwürdiges, düsteres, bedeutendes Strahlen; sein Gesicht war nach wie vor entstellt. Genau, wie er es vorhergesehen, hatten die englischen und französischen Spezialisten, die er aufgesucht, ihm erklärt, es bestehe viel Aussicht, seinen Kiefer wiederherzustellen, und die Schmerzen und die lange Dauer der Behandlung und die Zweifelhaftigkeit des Erfolgs bedenkend,
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