Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
haben versucht, den Alkohol zu verbieten; nicht einmal das hat sich durchführen lassen. Wenn man dem Menschen garden inneren Rausch verbieten will, ihm so angenehme Vorstellungen entziehen wie Freiheit, Heldentum, Vorsehung, Humanität, das läßt er sich einfach nicht gefallen. Da wird er tückisch, da wehrt er sich mit Zähnen und Klauen. Die Generation, die den imperialistischen Krieg mitgemacht hat, die kann sich ein Leben ohne Lüge nicht mehr vorstellen. Daß so viele Millionen Menschen kaputtgegangen sein sollen, nur weil ein paar hundert Profiteure Märkte haben wollten und Geschäftsankurbelung, diese Vorstellung, die halten sie einfach nicht aus. Darum müssen sie sich bescheißen mit großen Worten wie Nation, Demokratie, Freiheit. Dein Vater wird schon seine guten Gründe haben, daß er darüber nicht mit sich reden läßt. Wenn einer sich lange mit solchen Ideen besoffen hat, dann nützt keine Entziehungskur mehr.«
»Sie meinen also, Vater Merkle, ich soll weiter das Maul halten?« resümierte sachlich Hanns.
Merkle blieb vor ihm stehen, lächelte unter dem starken, weißen Schnurrbart, schaute ihn listig an. »Ja und nein«, erwiderte er. »Was man nicht redet, bereut man seltener, als was man redet, das ist gewiß. Aber mit Schweigen allein schafft man es auch nicht. Wenn Moltke nur geschwiegen hätte, dann wäre ich niemals Deutscher geworden. Man braucht ja«, sein Lächeln vertiefte sich, »dem andern nicht immer gleich alles auf die Nase zu binden. Wenn man einem den Star sticht, ist man auch vorsichtig und gewöhnt den Patienten nur langsam ans Helle. Vorsichtig würde ich also sein. Aber ganz aufgeben, mein Junge, ganz aufgeben würde ich einen Mann auch wieder nicht, bloß weil ich ihn nicht bekehren kann. Noch dazu, wenn es der eigene Vater ist. Nein, nein, so grausam wollen wir auch nicht sein.«
Hanns schaute vor sich hin, strich das zerknüllte Blatt mit der Zeichnung wieder glatt, hörte gespannt zu. Was der pfiffig lächelnde Merkle da sagte, war natürlich nur eine Einleitung, und er wartete auf die Folge. »Es gibt«, fuhr der Buchbinder denn auch fort, »heute zahllose Menschen, die sich zwischen den Klassen herumtreiben und nicht wissen, wohinsie gehören. Wir haben ihre Zahl unterschätzt. Man sollte es nicht dem Zufall überlassen, auf welche Seite sie laufen, wenn die Entscheidungsschlacht losgeht, ob zu uns oder unsern Gegnern. Begreifst du, wo ich hinauswill?«
Hanns merkte wohl, daß der Alte ein bestimmtes Ziel im Auge hatte, aber er sah dieses Ziel nicht und schwieg fragend. Vater Merkle, den Finger erhebend, schlau, fuhr fort zu dozieren: »Wenn man«, erklärte er langsam, nicht laut, doch jedes Wort betonend, »die Leute, die ich meine, unter ihnen einen gewissen Herrn Trautwein, genannt Sepp, nicht bekehren kann, dann soll man sie wenigstens verwenden. Es sind Leute voll von Vorurteilen, sie haben verblasene Ideen, es ist ihnen nicht gegeben, gerade und bis ans Ende zu denken. Aber ihr elementares Interesse, und das sehen sie selber ein, zwingt sie zur Gegnerschaft gegen den Faschismus. Deshalb müßte man ihnen begreiflich machen können, daß es ihr Vorteil ist, nicht gegen uns, sondern mit uns zu gehen. Man müßte ihnen begreiflich machen können, daß heute die einzige wirkliche Machtposition im Kampf gegen die Faschisten die Sowjetunion ist.« Er schwieg eine Weile. »Kapiert?« fragte er.
Er konnte Hanns vom Gesicht ablesen, daß er nicht kapiert hatte. Was Hanns einmal aufnahm, das verstand er gründlich, aber es dauerte lange, bis er aufnahm, und der Buchbinder machte sich oft, gern und gutmütig über diese seine münchnerisch langsame Auffassung, über seine »lange Leitung« lustig. »Ich habe einmal einen Schauspieler gekannt«, sagte er denn auch heute gutmütig, »der hat, wenn er in Berlin eine Lachpause von drei Sekunden einlegte, in München eine halbe Minute gewartet, damit die Zuhörer auch verstünden.« Dann aber setzte er sich Hanns gegenüber und steckte ihm ein Licht mehr auf über seinen Plan.
Es hatten sich um jene Zeit die Kommunisten entschlossen, ihre Feindschaft gegen die andern Linksparteien aufzugeben und sich zur Erreichung gewisser gemeinsamer Ziele mit ihnen zu verbinden. In mehreren Ländern arbeitete man an der Bildung einer solchen Einheitsfront. In Spanien hatteman sie zuwege gebracht, in Frankreich stand man unmittelbar vor dem Ziel. Wollte die deutsche Opposition praktische Politik treiben, dann konnte sie das nur, wenn auch
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