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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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nicht mehr Schluß machen zu wollen. Es geht wie aus einem Entenpopo. Das haben sie von ihrem Führer.
    Hanns benutzte die Weile des Wartens, um wieder einmal an einer Porträtskizze Vater Merkles zu zeichnen. Während er den Aufundabgehenden beschaute und mit einer nicht immer ganz gefügigen Hand seine Striche und Linien zog, gingen seine Gedanken die Kreuz und die Quer.
    Er wird nicht zu den Jüngsten gehören, wenn er in die École des Beaux-Arts eintritt, und es wird sicher noch lange dauern, bis er nach Moskau kann, wohin es ihn zieht. Ihm ist es recht. Er hat den Eindruck, es gebe keinen Zufall in seinem Leben. Wie gut, daß ihn die Umstände aus seinem braven München herausgeworfen haben. So hat er zu spüren bekommen, was Heimat ist und was Fremde, was Gebundenheit und was Freiheit, was Unsicherheit und was gefestigte Stellung. Wer ein Emigrant ist, lernt, was eine Heimstätte bedeutet, wer die Hauslosigkeit kennengelernt hat, spürt um so tiefer, wie ein Haus beschaffen sein muß, um eine Wohnstätte für Menschen zu sein.
    Auch daß er Vater Merkle gefunden hat, ist kein Zufall. Einen bessern Führer hätte er sich nicht wünschen können. Der Alte hat so etwas Handfestes, Solides. Auch das Romantische wird bei ihm nüchtern und glasklar, und es vergehen einem die dummen Gedanken. Dazu kennt er die Welt. Als Elsässer ist er vertraut mit den deutschen und mit den französischen Dingen. Er hat, trotzdem er von früher Jugend an Sozialist war, sich lange von jeder Parteibindung ferngehalten und ist erst spät zu den Kommunisten gegangen. Nichts ist bei ihm ausgeleiert oder bloße Theorie. Er hat seine eigenen Gedanken, er ist kritisch, wo es not tut, und gläubig, wo es not tut. Was er sagt, ist fest und dauerhaft wie seine Einbände.
    Endlich stellte der Alte das Radio ab, und in die wohltuende Stille hinein, auf die Zeichnung weisend, fragte er: »Na, ist es heute was geworden? Kann man sehen?« Hanns errötete, schob die Zeichnung beiseite, überdeckte sie mit der Hand. »Später, Vater Merkle«, erwiderte er. Und sogleich, mit Entschluß, fuhr er fort: »Ich bin heute gekommen, um etwas mit Ihnen zu besprechen.« Vater Merkle richtete seinen hellen, kurzen, scharfen Blick auf ihn. »Schieß los, mein Junge«, sagte er, stocherte in seiner Pfeife, setzte sich Hanns gegenüber.
    Der berichtete, genau, manchmal etwas umständlich. Er zitierte einzelne Aussprüche Sepps und führte an, was er selber erwidert hatte. Dabei spielte er mit der Skizze, mechanisch,und obwohl er sich bemühte, sich ruhig zu geben, zerknüllte er sie schließlich mit der breiten, roten, kurzfingrigen Hand. In der letzten Woche, schloß er, sei es besonders schlimm geworden. Sepp rede wieder und wieder von diesem Fall Benjamin, und der Schmarrn, den er da verzapfe, der gehe auf keine Kuhhaut. »Wenn ich mich aber rühre«, empörte er sich, »wenn ich anfange, zu debattieren, dann ist der Teufel los. Gegen diese Lawine von Banalitäten und Klassenvorurteilen kommt kein Mensch auf. Es hat keinen Sinn, sich zu streiten, wenn man den ganzen Tag so nah aufeinanderhockt. Man macht sich nur die Nerven kaputt. Was soll ich tun? Geben Sie mir einen Rat, Vater Merkle.«
    Der Buchbinder hatte die Erzählung des Jungen mit keinem Wort unterbrochen. Auch als Hanns zu Ende war, stellte er keine Fragen, sondern schwieg noch eine Weile. Er ging hin und her durch den großen Raum, langsam, überlegend. Zuweilen nahm er mit behutsamer Hand einen Gegenstand, betrachtete ihn aus seinen hellen, kleinen Augen, aufmerksam, doch blicklos, betastete ihn, stellte ihn wieder zurück. Er rauchte stark, der Geruch seiner Pfeife übertäubte den Leder- und Kleistergeruch, der das Atelier erfüllte. Hanns, der ihn kannte, wartete geduldig.
    Allmählich begann denn auch der Alte laut zu denken. Seine Sätze kamen langsam, mit vielen Pausen. »Vor dem Kriege«, meditierte er, »haben wir alle geglaubt, der Mensch sei feig. Das war eines unserer vielen Vorurteile. Im Krieg haben wir umgelernt. Die physische Feigheit des Menschen zu besiegen ist gar nicht so schwer. Man braucht ihn nur richtig anzupacken. Wenn man ihm streng zuspricht und ihm dann noch ein bißchen Schnaps eingießt, dann geht er glatt und folgsam in den Tod. Wovor er viel mehr Angst hat als vor dem Sterben, das ist die Wahrheit. Die warmen, angenehmen Lügen, in die er sich immerzu einhüllt, die hält er fest. Die läßt er sich verdammt viel schwerer ausreden als die Todesangst. Die Amerikaner

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