Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Vorwürfe. Anna bleibt geduldig, sie hat Mitleid mit Elli, sie kann nicht vergessen, wie die damals in dem greulichen Restaurant gierig über den armseligen Fraß hergefallen ist. Doch Elli ist und bleibt ein Stück Malheur, in kurzer Zeit wird sie wieder so dasitzen wie vorher, man hat es nicht leicht. Wenn wenigstens die beim Rundfunk schon endgültig nein sagten. Das wäre besser, als einen so endlos hinzuziehen. Und mit der Arbeitskarte wird es auch nichts, und die Pässe laufen auch ab, und man wird tausend Scherereien haben, eine Legitimation zu kriegen. Und das Schlimmste, das zehnmal, das hundertmal Schlimmere: es ist so gekommen, wie sie es vorausgesagt hat; Sepp hat infolge seiner läppischen Redaktionstätigkeit wirklich keine Zeit mehr für seine Musik. Nie mehr sitzt er über seinen Noten, nie mehr über dem Klavier. Die Stunden gemeinsamer Arbeit, die sie so nah verbanden, scheinen endgültig vorbei zu sein.
Im Lauf des Tages aber war ihre Laune besser geworden. Es war besonders schönes Frühlingswetter, Elli richtete den ganzen Tag kein Unglück an, und schließlich hatte sich Doktor Wohlgemuth von seiner nettesten Seite gezeigt, er hatte ihr, als eine große Rechnung, die er schon verloren gegeben, wider Erwarten doch bezahlt wurde, eine Gratifikation von zweihundert Franken aufgedrängt.
Und dann war gar noch die Schweizer Note gekommen, das war wirklich etwas Erfreuliches. Diese Schweizer Note bewies, daß Sepp doch nicht so ganz von allem Wirklichkeitssinn verlassen war, wie Anna befürchtet hatte. Und wie gern hatte sie unrecht, wenn dafür der Mann, den sie liebte, recht behielt.
Während sie herumlief, um das Abendessen einzuholen, war sie so vergnügt gewesen wie seit langem nicht. Für den Abend hatte sie sich zurechtgemacht. Der Spiegel hatte schlechtes Licht, aber soviel war gewiß, sie schaute noch immer gut aus, die Männer drehten sich mit Recht nach ihr um, und es war durchaus natürlich, daß Monsieur Pereyro mit ihr flirtete. Sie spürte in sich die Zuversicht der früheren Anna, sie war sicher, es werde doch noch alles gut werden. Müde und glücklich hatte sie sich mit Mann und Sohn zum Abendessen gesetzt.
Als die Debatte zwischen Sepp und dem Jungen begann, hatte sie in ihrer angenehmen Abgespanntheit zuerst nicht recht hingehört. Dann, als sie begriff, worum es ging, war ihr Verstand wieder geneigt, eher Hanns recht zu geben als dem ewig optimistischen Sepp. Immer haben leider diejenigen recht behalten, die Schlimmes befürchteten. Ihr Sepp hatte es für ausgeschlossen gehalten, daß in einem Reich wie dem deutschen die Barbaren an die Macht kämen: und dann sind sie eben doch gekommen. Bei jeder neuen, immer weniger glaubhaften Gewalttat hat man erklärt: das ist die letzte, diesmal wird es ihnen nicht durchgehen. Und jedesmal ist es ihnen durchgegangen. Warum soll es ihnen im Fall Benjamin nicht durchgehen? Es ist natürlich erfreulich, daß ihr Sepp immer noch glaubt, er habe etwas zu bestellen, und sie liebt ihn darum. Aber besser wäre es, er kehrte zu seiner Musik zurück. Auch sie ist gewiß, daß die Herrschaft der Nazi keine tausend Jahre dauern wird, aber lange dauern kann sie, und man wird gut daran tun, sich darauf einzurichten, daß man auf dieser Zwischenstation Paris geraume Zeit wird warten müssen, ehe man wieder einsteigen kann.
Da sitzen sie, der Junge und er, und streiten sich um große Politik. Sind sie besser als die beiden Schreiner Doktor Wohlgemuths, die sich, statt ihre Tür zu reparieren, um Trotzki gerauft haben? Ach, wenn sie sich, da sie schon fürs Allgemeine sorgen, erst ums Kleine kümmern wollten statt ums Große. Wenn man, statt Kongresse einzuberufen und hochpolitischeResolutionen zu diskutieren, erst einmal eine Stelle einrichtete, die imstande wäre, einen in Paßangelegenheiten vernünftig zu beraten oder auch nur richtig zu informieren. Nur deshalb, weil er keinen richtigen Paß bekommen konnte, ist dieser arme Benjamin den Nazis in die Hände gefallen. Jetzt muß man die öffentliche Meinung der ganzen Welt alarmieren. Vor zwei Monaten hätte ein einziger vernünftiger Empfehlungsschrieb an eine Präfektur genügt, ihm auf Lebensdauer zu helfen. Wenn es schon so schwer hält, auch nur Legitimationspapiere zu bekommen – und da hat man es mit Wohlwollenden zu tun –, wie aussichtslos ist es erst, wenn ihr Sepp und seine paar ohnmächtigen Emigranten gegen einen ganzen, riesigen Staatsapparat angehen. Nein, wenn man nichts für sich
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