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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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fühlt sich leicht, frisch, hat ein besonders gutes Gewissen, ist sehr mit sich zufrieden. Eine Sekunde lang taucht die Berliner Note vor ihm auf mit ihrer ganzen, höhnischen Kaltschnäuzigkeit, den Bruchteil einer Sekunde, ganz, ganz ferne, droht das fait accompli. Abergleich wieder verschwindet es, und an seiner Statt kommen ihm Verse. Er skandiert, er sagt die Verse leise vor sich hin:
    »Und hält er mit Pauken und mit Trompeten
    Noch so schallende, dröhnende Reden
    Wie er das Vaterland errettere
    Und den Weltbolschewismus zerschmettere
    Wir haben das hundertprozentige Wissen:
    Gefurzt, Herr Hitler, ist noch lang nicht geschissen.«
    Dem alten Gingold werden diese Verse wahrscheinlich nicht passen. Und Tschernigg macht bessere Verse. Aber ihm, Sepp Trautwein, gefielen sie. »Mir gefallt’s«, sagte er laut, vergnügt.
    Er war jetzt nahe am Hotel Aranjuez. Die leere Straße hallte von seinen Schritten. Beschwingt ging er diese letzte Strecke, er war gar nicht müde, er spürte kaum seine Glieder, es war wie beim Skifahren. Er war voll Musik; vorne war etwas ganz Leichtes, Helles, tiefer unten war der wilde Jammer der »Perser«, darüber, nicht zu grell und doch triumphierend, waren die Fanfaren. Vor sich hin aber, ziemlich laut, sang er. Was er sang, das waren weder die Fanfaren noch der Jammer, sondern, merkwürdigerweise, ein altes münchnerisches Volkslied, die Hymne der Stadt München:
    »Solang der alte Peter
    Am Petersbergel steht,
    Solang die grüne Isar
    Durch die Münchner Stadt noch geht,
    Solang hört die Gemütlichkeit
    In München nimmer auf.«
    Es war eine äußerst simple Weise, derb, sentimental, animalisch fröhlich, sie stimmte auch nur mehr sehr bedingt, denn wenn man an den Herrn Hitler dachte und an das Konzentrationslager in Dachau, dann war wohl nicht mehr viel Gemütlichkeit da, aber immerhin war in diesem Lied das ganze München, die Frauentürme und die Weißwürste und der Maibock und das »Prost, Herr Nachbar« für jeden Unbekannten, wasim Grunde nichts anderes war als eine volkstümliche Form für »Seid umschlungen, Millionen« und somit diese Münchner Weise sozusagen zu einer Variation der Neunten Sinfonie erhob, und ihm jedenfalls machte sie Spaß, diese Weise, solchen Spaß, daß es sich lohnte, sie noch einmal zu singen und noch etwas lauter. »Na, na, guter Mann, man hat sich etwas regaliert?« fragte plötzlich eine Stimme. Es war ein Polizist. »Mag sein, Herr Flic«, erwiderte gutgelaunt Trautwein; es war aber »Flic« der Spitzname der französischen Polizisten. »Einen hübschen Mantel haben Sie da«, anerkannte Trautwein, auf die Pelerine des Polizisten weisend. »Nicht schlecht«, gab der gutmütig zurück. »Aber jetzt geht man wohl am besten nach Haus.«
    Das tat denn auch Sepp Trautwein. Es gab im Hotel Aranjuez einen Lift, aber den nahm er nicht, er stieg vielmehr die ausgetretenen Treppen hinauf mit dem schäbigen, zerflickten Läufer. Unvermittelt kam ihm wieder die Berliner Antwortnote ins Gedächtnis und sein Artikel. Der erschien ihm jetzt besonders geglückt, und herausfordernd vor sich hin pfiff er, übrigens aus alter Gewohnheit gedämpft, um die andern nicht zu stören: »Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen.«
    »So mag er’s sagen, ich spiel ihm auf, ja, ich spiel ihm auf, ja, ich spiel ihm auf«, sang er, während er den außensteckenden Schlüssel zu seinem Appartement umdrehte. Sie ist also doch schon zu Bett gegangen, konstatierte er erstaunt und wunderte sich über sein Staunen; denn es war klar, daß Anna nicht bis nach vier Uhr, das war es jetzt, auf ihn warten würde.
    Er tastete sich durch das vollgestopfte Zimmer. Er war auf einmal müde. Seine Freude und sein Glücksgefühl waren von ihm abgefallen in dem Augenblick, in dem er das Zimmer betreten, er dachte nicht mehr daran, einen Grafen zu einem Tänzchen herauszufordern. Vielmehr verspürte er plötzlich schrecklichen Kaffeedurst. Allein er wollte Anna und den Jungen nicht aufwecken. Er bemühte sich, so leise wie möglich zusein. Natürlich schmiß er doch etwas herunter, und da war Anna schon aufgewacht.
    »Guten Abend«, sagte er. »Wieviel Uhr ist es?« fragte sie, nicht eben böse, doch auch nicht freundlich. »Nicht mehr sehr früh«, erwiderte er. »Vier Uhr siebenundzwanzig«, ergänzte er sachlich, auf die schöne Wanduhr schauend. Sie erwiderte nichts, aber er merkte, wie sie, während er sich auszog, jeder seiner Bewegungen folgte. Er roch nach Zigarren und wohl auch

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