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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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ihr, daß sie recht hat, und jetzt will sie mir’s auch noch zeigen. Wenn ich wenigstens mit dem Haserl gegangen wäre.
    Anna spürt seine feindseligen Gedanken. Das nächste Mal, erwägt sie, wenn ich Madame Chaix sehe, werde ich mich nicht beherrschen können. Es wird Unsinn sein, aber ich werde ihr doch zum hundertstenmal sagen, daß sie die neue Milch nicht zur alten schütten soll, und statt daß ich lache, werde ich schimpfen, es wird Krach geben, und das nächste Mal wird sie die neue Milch doch wieder zur alten schütten. Da plage ich mich ab mit den Pereyros und mit dem Pack vom Rundfunk und zermartere mir den Kopf, und er will es nicht einmal. Ich rede ihm zu wie einer kranken Kuh, daß er seine dumme Politik endlich aufgibt. Ich zerfranse mir den Mund, daß er wieder Musik macht. Ich selber kann mir keine Gedanken für was Besseres mehr leisten; meine öden Sorgen und meine öde Arbeit fressen mich ganz auf: und er tut, als machte ich es zu meinem Vergnügen. Es ist eine Gemeinheit,ich schinde mich ab, und schließlich wird es mir doch nur gehen wie Elli. Jetzt schon bin ich alt und häßlich und habe nicht das Geld, es zu verbergen. Für ihn hab ich mich alt gemacht, und jetzt sitzt er da und schaut mich mit solchen Augen an.
    Und plötzlich, hart, sagt sie zu ihm: »Bist du ganz gottverlassen, Mensch? Merkst du nicht, wie du dich zum Narren machst? Schmeiß sie doch hin, deine blöde Politik. Du verstehst ja doch nichts davon. Du machst dich nur lächerlich vor den andern. Merkst du es denn immer noch nicht, daß du dich zum Don Quichotte machst?« Kaffee, denkt sie, morgens um fünf Kaffee. Und dann meckern, weil die Milch nicht frisch ist. Wie stellt er sich das denn vor? Wie soll ich das denn machen? Ich kann die Chaix doch nicht zwingen, daß sie die alte Milch erst wegschüttet. »Verrückt bis du«, sagt sie, lauter, härter, jetzt ist ihre Stimme gar nicht mehr angenehm, und ihr Gesicht ist bösartig. »Verrückt«, wiederholt sie und immer wieder: »Verrückt«, und: »Mach deine ›Perser‹«, sagt sie, »und laß deine dummen Hände von der Politik. Verrückt bist du, und alle werden verrückt, die mit dir zu tun haben.« Sie wird immer lauter. »Ja, verrückt bist du, verrückt. Nach Dalldorf gehörst du.«
    Ihre Stimme klingt schrill, sie schreit. Solange Sepp sie kennt, hat sie noch nie geschrien. Jetzt aber, in einem Schwall, bricht sie heraus, die ganze Bitterkeit, die sich in diesen zwei Jahren in ihr gestaut und die sie immer wieder hinuntergedrängt hat. Dabei ist sie bei Besinnung, sie weiß, was sie sagt. Was ist das für ein Unsinn, den sie daherredet. Wie kann man denn hier in Paris, im Exil, sagen, daß er nach Dalldorf gehört, in das Berliner Irrenhaus. Es ist ihr auch genau bewußt, daß jetzt die ganze Beherrschung für die Katz war, die sie sich in diesen zwei Jahren so oft abgerungen hat. Aber sie kann nicht mehr, sie muß schreien. Es genügt ihr nicht, zu schreien. Sie packt den billigen Steingutleuchter, der sinnloserweise auf dem Nachtkästchen steht, sie schmettert ihn zur Erde, daß er zerklirrt.
    Von nebenan klopft es, auch unten klopfen sie. Hanns kommt herein, schlaftrunken, erschreckt: »Was ist denn los?«
    Wie sie das Klopfen von unten hört, wie sie Hanns sieht, ernüchtert sie sich rasch. Ich habe keinen Murr mehr in den Knochen, denkt sie, ich kann nichts festhalten, nicht einmal meinen Zorn. Denn ihr ganzer Zorn ist fort. Sie schämt sich vor Hanns. »Geh zurück, mein Junge, geh wieder ins Bett«, stößt sie hervor, angestrengt, »es ist nichts.« Sie schluchzt heraus, wirft sich bäuchlings zurück ins Bett, sucht ihr Schluchzen im Kissen zu ersticken.
    Trautwein, maßlos erschreckt, winkt dem Jungen, bittet ihn: »Geh zurück, Hanns, geh wieder schlafen. Es wird gleich besser.« Das Zimmer ist voll von fahlem, widerwärtigem Morgenlicht, und zum erstenmal sieht er Anna, wie sie jetzt ist, ganz, ihr Innen und ihr Außen. Er erkennt, wieviel er selber noch hat, und wie wenig sie. Er hat seine Politik, seine Musik, der Tag hat für ihn ausgefüllte sechzehn Stunden, eine reicher als die andere: sie hat nichts, nichts, nichts. An ihn allein kann sie sich klammern, er aber hat höchstens einmal ein Streicheln für sie wie für ein gutes, treues Tier. Plötzlich erkennt er, was das ist, ihre zahllosen kleinen Sorgen, für die er bisher nichts gehabt hat als Ungeduld und bestenfalls gutmütige Verachtung. Was er auf der Redaktion der »Nachrichten«

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