Exil
schon gehen«, sagt sie. »Es sind doch nur ein paar Monate, dann sind schon Lernferien, und das Examen und alles ist überstanden.«
»Aber …«, wende ich ein. »Die Leute denken doch …« Tatsächlich weiß ich nicht, was sie denken. »Was reden sie so?«
»Na ja, es heißt, Panos war in dich verliebt und hat Stefano aus Eifersucht verprügelt.«
»Und was ist mit Baltazar?«
»Baltazar?«, fragt Tazim. »Was soll mit ihm sein?«
»Er … ach, nichts.« Baltazar ist nicht mehr in der Schule, er ist bereits vergessen; tot und verschwunden wie Gretchen und Christian.
Paria
Ich trage meine Tasche auf das Zimmer, das ich mit Adella teilen soll – immerhin etwas. Wir rauchen einen Joint, wie immer. Wir schlafen, sie jedenfalls. Ich überlege, ob ich meine Tasche packe, im YMCA übernachte und morgen früh einen Bus nehme. Auf der Schule scheint es eine unsichtbare Zone um mich herum zu geben: Niemand kommt mir zu nahe, und niemand redet mit mir. Im Unterricht sitze ich zwischen den Küken aus der Klasse unter mir; ich weiß nicht mal, wie sie heißen. Aber jetzt ist dies meine Klasse, und ich schlage in den Büchern Seiten auf, die ich schon einmal gesehen habe … Was soll ich damit? Ich gehe zum Kijana-Haus und setze mich auf die Raucherbank, zünde mir eine Zigarette an, mit wem soll ich reden? Man zeigt mir nicht die kalte Schulter. Die Leute lassen sich nur nicht auf mich ein. Meine Freunde sind fort. Panos ist weg. Gretchen. Baltazar und Stefano waren keine Freunde. Christian ist weg. Shakila ist in Daressalaam. Diana und Truddi gehen mir aus dem Weg wie der Pest. In einer Pause spreche ich Diana an.
»Hast du von Panos gehört?«
»Halt dich von mir fern«, erwidert sie.
»Ich will dir doch bloß erzählen …«
»Verschwinde!«, zischt Diana.
Auch Tazim meidet mich. Vermutlich denkt sie, ich übertreibe. Ich besuche sie.
»Ständig schaffst du dir eine Menge Probleme. Und du schaffst allen, die in deiner Nähe sind, Probleme. Das will ich nicht«, sagt sie und lässt mich stehen. Ich glaube, es gibt eine Menge Gerüchte über mich. Die Leute respektieren mich oder meiden mich einfach, vielleicht haben sie Angst. In jeder Pause sitze ich auf der Raucherbank, hier gehöre ich hin. Jarno setzt sich neben mich.
»Willkommen zurück, Sam«, sagt er.
»Ja, vielen Dank.«
»Wird schon gehen.«
»So?«, frage ich. Er lächelt und zuckt die Achseln, zieht an seiner Zigarette.
Handbuch
Als Nachmittagssportart wähle ich Schwimmen. So muss ich mit niemandem sprechen, außerdem schwimme ich schneller als die meisten. Ich brauche jemanden. Gehe den weiten Weg bis zu Mama Mbege , aber Jarno ist nicht dort. Begegne einem Sikh aus Jarnos Klasse, Bramjot. Er lächelt und bietet mir eine Zigarette an, redet aber nicht mit mir. Am nächsten Nachmittag gehe ich ins Kishari, in dem ich mich eigentlich gar nicht aufhalten darf. Jarno sitzt in seinem Zimmer am Schreibtisch. Ich trete ein und lege mich aufs Bett. Er schaut mich an und lächelt, sagt aber nichts. Ich auch nicht. Das Lächeln erstarrt. Er bleibt sitzen.
»Christian kommt im Juni«, teilt er mit.
»Ah ja?«, erwidere ich. Jarno sagt kein weiteres Wort. Alles steht still. Ich halte es nicht aus.
»Warum tust du nichts?«, frage ich ihn.
»Was soll ich tun?«
»Ich liege hier vor dir.«
»Und was möchtest du? Was soll ich machen?«
»Es gibt kein Handbuch.«
»Was könntest du dir denn vorstellen.«
»Woher soll ich das wissen?«
»Tja, ich habe auch kein Handbuch«, sagt er und steht auf. Bleibt im Zimmer stehen.
»Dann such dir doch eins«, erwidere ich, als ich ebenfalls aufstehe und mich vor ihn stelle. Ihn ansehe. Er schaut mich an. Wir stehen uns einige Sekunden wortlos gegenüber. »Tsk«, schnalze ich und verlasse das Zimmer.
Gewalt
Ende März, kurz vor Schluss des Semesters, setze ich einen Punkt. In der Bibliothek. Ich lese einen Text für eine Biologieaufgabe, als Gulzar sich mir gegenübersetzt und flüstert: »Ich kann dich bezahlen, wenn du’s mit mir machst.«
Ich schaue auf, um mein Gesicht zu verziehen, aber er sieht mich so erwartungsvoll an. Als ob es möglich sein könnte, als ob es tatsächlich passieren könnte … dass die Welt so funktioniert und ich ihn für Geld anfasse. Ich könnte kotzen, bin aber bereits aufgesprungen, packe die Rückenlehne des Stuhls und schwinge ihn über den Tisch. Die Beine brechen an Gulzars Schädel ab. Er fällt rücklings von seinem Stuhl, sein Kopf knallt auf den Betonfußboden.
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