Exil
und Kannibalismus
Als ich wieder in den Garten komme, ist Frans angetrunken; es reicht, um sich nach Vaters Arbeit zu erkundigen.
»Afrika«, sagt er. »Kindersoldaten. Bist du schon mal Kindersoldaten begegnet?«
»Ja. Kindersoldaten gibt’s überall.«
»Wieso?«
»Je jünger die Soldaten sind, desto besser. Junge Männer haben keine Vorstellung davon, dass sie sterben könnten. Dazu kommt eine Mischung aus Unwissenheit und Religion.«
»Aber … hast du gegen Kinder gekämpft? Auf sie geschossen?«
»Was würdest du tun, wenn ungefähr zwanzig zwölfjährige Jungen mit Macheten und AK 47 auf dich zukämen? Die UNICEF anrufen? Die Burschen wissen, dass meine Kugeln sie nicht verletzen können. Das sagt der Medizinmann, und der ist eine große Autorität.«
»Aber sie sehen doch, wie ihre Kameraden fallen?«
»Ja, aber sie wissen auch, dass sie von ihren Offizieren getötet werden, wenn sie den Angriff nicht durchführen.«
»Außerdem stehen sie unter Drogen«, wirft Alison ein.
»Das waren sie tatsächlich, besoffen und bekifft. Tja, Frans, du denkst, es sind junge Bengel, die noch mit der Eisenbahn spielen. Von Grund auf gut. Diese Burschen haben gesehen, wie ihre Familien ermordet wurden. Man hat ihnen befohlen, erwachsene Frauen zu vergewaltigen, die man in ihren eigenen Dörfern gekidnappt hat. Sie wurden zum Kannibalismus gezwungen. Das sind keine Jungen mehr.«
»Kannibalismus?«
»Ja. Wenn in Zentralafrika alles zusammenbricht, kommt es zu Kannibalismus. Man isst das Fleisch seiner gefallenen Feinde, um sich deren Kraft einzuverleiben. Versetzt man sich in ihre Realität, ergibt das absolut Sinn. Ich habe es gesehen.«
»Und was hast du gemacht?«
»Sie erschossen.«
»Aber … das Leben eines jeden Menschen ist doch etwas wert?«
Vater lacht über Frans. »Bei einigen mehr als bei anderen.« Er zeigt auf den Wachmann, der im Garten seine Runde geht. »Dein Leben ist mehr wert als das des Wachmanns. Und erzähl mir nicht, dass du anderer Ansicht bist.«
»Hör auf, mit ihm zu diskutieren«, fordert Alison Frans auf. »Er hat keine Seele.«
»Die habe ich durchaus. Vielleicht ist sie ein wenig verschattet, aber sie ist hier, wo wir sind«, erwidert Vater mit einer Armbewegung. Meint er Afrika? Oder die Welt?
»Wie hältst du dich eigentlich aus?«, stöhnt Frans. Alison steht auf und legt ihm die Hände auf die Schultern.
»Bettzeit«, sagt sie.
»Ich versteh es nicht«, beharrt Frans.
»Komm.«
»Nein, warte.«
»Vater, wieso musst du jedes Mal …«, setze ich an, unterbreche mich aber, denn es ist Zeitverschwendung.
»Ich habe bloß auf die Frage dieses Mannes geantwortet. Es ist leicht, das Herz auf dem rechten Fleck zu haben, wenn man Erste Klasse fliegt.«
Politik
»Ich …«, sagt Frans. Alison hat sich wieder hingesetzt, die brave Hausfrau. Wenn der Mann besoffen ist und nicht ins Bett will, muss er auch nicht ins Bett. »Aber wie ist es möglich, dass Unruhen in Afrika immer so … aus dem Ruder laufen. Also … so bestialisch sind, so grausam?« Frans lallt ein wenig.
»Sie sind nicht grausamer als anderswo«, entgegnet Vater.
»Kindersoldaten, Vergewaltigungen, Kannibalismus. Das ist doch … unmenschlich.«
»Nein«, widerspricht Vater. »Das ist menschlich. Glaubst du, Weiße täten so etwas nicht?«
Frans antwortet nicht. Ich bin nicht gut in Geschichte, aber es gab den Zweiten Weltkrieg.
»Es ist nur so schwer zu verstehen«, sagt Frans.
»Stell dir vor, du stammst hier aus Tansania. Du bist ein junger Mann, gesund und kräftig. Du hast kein Geld, um zu leben, weniger als einen Dollar am Tag. Du kannst weder lesen noch schreiben. Du kennst niemanden mit Beziehungen. Es gibt keinerlei Aussicht auf Arbeit. Das Einzige, was du tun kannst, ist an der Straßenecke stehen und neidisch jedem Wagen und jedem Paar eleganter Schuhe hinterherzusehen. Und dann kommt plötzlich eine Autorität, die auf den Feind zeigt, der angeblich Schuld an dieser Situation ist, und befiehlt dir, ihn zu ermorden. Man sagt dir, du hast zuerst zu vergewaltigen, und hinterher darfst du gern den Besitz des Ermordeten behalten. Was würdest du tun? Selbstverständlich vergewaltigen und morden.«
»Aber warum helfen wir aus dem Westen nicht? Wieso ändern wir nicht das System?«
»Weil das Realpolitik ist, Machtpolitik. Afrika ist durch und durch verfault von Korruption und Nepotismus. Sie haben die Rohstoffe, die wir wollen – und wir nehmen sie uns, wie es uns passt. Wir Westler sind auf
Weitere Kostenlose Bücher