Existenz
Erschütterungen riefen bei Tor eine Art Fatalismus hervor, während der entweichende Sauerstoff auf Warren genau die gegenteilige Wirkung zu haben schien. Er sprang auf, sprang durch den von ihm selbst stammenden Riss in der Gaszelle und stürmte zur anderen Seite, um dort den riesigen Wasserstoffbehälter aufzuschneiden, obwohl der Smartmob dringend davor warnte.
Tor wollte einen eigenen Appell hinzufügen, brachte jedoch keinen Ton hervor.
Eine tolle Reporterin bist du , dachte sie und fand ironischen Trost in der Tatsache, dass ihre Brille noch immer ins Netz sendete.
Live-Bilder von jemandem, der ganz und gar nicht wie ein Held aussah.
Warren wirkte wie betrunken von Sauerstoff und Adrenalin, aber er hatte noch genug klaren Verstand, um sich über die möglichen Konsequenzen klar zu sein. Mit einer Mischung aus Furcht und Begeisterung verzog er das Gesicht und bohrte seinen Schneider in die Membran, in die dünne Barriere zwischen zwei Gasen, die unbedingt eins werden wollten, wenn sie sich trafen.
Die Wahrnehmung kehrte bruchstückhaft zurück.
Zuerst kamen Fragmente traumartiger Bilder. Albtraumhafte Szenen von etwas Schrecklichem huschten über eine Landschaft aus brennendem Glas – so stellte sich ihr Geist die Anhäufung von Agonien vor. Kummer. Physische Qual. Versagen. Noch mehr Schmerz. Reue. Noch mehr Agonie.
Als sich der Nebel schließlich lichtete, machte das zurückkehrende Bewusstsein alles nur noch schlimmer. Schwärze umgab sie, abgesehen von einigen scharlachroten Blitzen, die direkt mit den Schmerzen verknüpft waren – Impulse eines geschundenen Nervensystems.
Auch Tors Ohren schienen nicht mehr zu funktionieren. Sie hörte nur ein leises, unangenehmes Summen, das nicht verschwinden wollte.
Es gab nur noch einen funktionsfähigen Kanal zur Außenwelt.
Die Stimme. Sie hatte auch die Träume heimgesucht, erinnerte sie sich. Etwas Störendes, das ebenso wenig verschwinden wollte wie das dumpfe beständige Summen. Aber jetzt verstand sie wenigstens die Worte.
»Tor? Bist du wach? Wir bekommen kein Signal von deiner Brille, aber das Zahn-Implantat zeigt eine Trägerwelle. Kannst du uns ein Klicken geben?«
Nach einer kurzen Pause wiederholte sich die Botschaft.
Und dann noch einmal.
Eine automatische Sendung in einer Endlosschleife. Tor vermutete, dass sie ziemlich lange bewusstlos gewesen war.
»Tor? Bist du wach? Wir bekommen kein Signal von deiner Brille, aber das Zahn-Implantat zeigt eine Trägerwelle. Kannst du uns ein Klicken geben?«
Die Versuchung, nichts zu tun, war fast überwältigend groß. Jede Anweisung, die sie den Muskeln schickte, damit sie sich bewegten, erhöhte den schneidenden, brennenden Schmerz. Passivität schien die Lektion zu lauten, die man sie derzeit lehrte. Bleib still liegen, wenn du nicht noch mehr leiden willst. Bleib liegen und warte. Vielleicht auf den Tod.
Außerdem war Tor nicht sicher, ob sie das Gruppen-Selbst noch mochte.
»Tor? Bist du wach? Wir bekommen kein Signal von deiner Brille, aber das Zahn-Implantat zeigt eine Trägerwelle. Kannst du uns ein Klicken geben?«
Andererseits … Passivität schien einen wichtigen Nachteil zu haben – sie gab dem Schmerz einen Verbündeten.
Langeweile. Noch eine Methode, sie zu quälen. Gerade sie.
Zum Teufel damit.
Mit einer Anstrengung, die ihr neue Qualen bescherte, bewegte sie die Kiefer so, dass die beiden linken Eckzähne aufeinandertrafen. Nach dem ersten Mal ließ Tor sie noch zwei weitere Male klicken. Die automatische Sendung ging zunächst weiter, so lange, dass Tor schon glaubte, sich umsonst bemüht zu haben. Sie war abgeschnitten und isoliert, allein in der Dunkelheit.
Aber die Gruppenmitglieder mussten mit eigenen Dingen beschäftigt gewesen sein: mit ihrer Arbeit, ihren Familien. Vielleicht saßen sie daheim vor Holoschirmen und sahen sich die Nachrichten an.
Nach etwa zwanzig Sekunden empfing Tor eine aufgeregte Stimme.
»Tor! Wir sind ja so froh, dass du wieder bei Bewusstsein bist!«
Von den Schmerzen benommen fiel es Tor schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber sie schaffte es, den einen Eckzahn in einem Kreis um den anderen zu ziehen – das allgemeine Symbol für »Fragezeichen«.
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Die Botschaft kam an.
»Tor, du befindest dich in einer Lebenserhaltungseinheit. Rettungshelfer haben dich vor etwa zwölf Minuten im Wrack gefunden, aber es dauert eine Weile, dich herauszuholen. In weiteren drei oder vier Minuten sollten sie dich an Bord eines Medikopters gebracht
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