Existenz
um herauszufinden, was ihn interessieren könnte, und ständig kam es dabei zu neuen Priorisierungen, damit nur die plausibelsten Möglichkeiten am Rande seines Blickfelds erschienen … während Gerald sich auf die realen Personen und Ereignisse direkt vor ihm konzentrieren konnte. Diese assoziative Aufmerksamkeitsassistenz ahmte die Denkweise kreativer Menschen nach, indem sie Millionen von Verbindungen herstellte, von denen nur einige wenige die Oberfläche des Bewusstseins erreichten. Die beste Intelligenzsteigerungs-KIware hatte sich Gerald nie leisten können – bis jetzt. Bis der Preis keine Rolle mehr spielte.
Inzwischen gewöhnte er sich allmählich an seine neue supermoderne Ausrüstung. In der einen Ecke wies eine gelbe Einblendung seiner Brille auf hohe Priorität hin, die eine hereinkommende Mitteilung betraf, von einer wichtigen Person mit hohem Glaubwürdigkeitsstatus. Jemand aus dem Beratergremium, das aus etwa achtzig Personen bestand, die der Kommission nicht nur in Echtzeit zusehen und zuhören konnten, sondern auch die Möglichkeit hatten, ihr Ratschläge anzubieten.
Gerald sah zunächst nur das Flimmern eines aufs Wesentliche beschränkten Stichworts: »Viele sind vielleicht einer, und vice versa.« Dann meldete sich der Berater zu Wort, nachdem zunächst Akana, dann auch Gennadi ihre Zustimmung gegeben hatten.
»Die Unterscheidung zwischen ›einer‹ und ›viele‹ kann unklar sein. Die besten Modelle des menschlichen Bewusstseins beschrieben es als eine Ansammlung von Interessen und Subpersönlichkeiten, die manchmal in Konflikt miteinander stehen, oft verschmelzen, sich überlappen und mit agiler Anpassungsfähigkeit neue Eigenständigkeit gewinnen.
Vernunft und Verstand hängen davon ab, diese im Fluss befindlichen Teile des Selbst zur Zusammenarbeit zu bewegen, ohne dass sie zu starr oder zu genau umrissen und definiert werden. Bei Menschen geschieht das am besten durch Interaktion mit anderen Bewusstseinsträgern, mit anderen Personen. Ohne solche Wechselwirkungen mit äußeren Entitäten – mit externen Gemeinschaften und objektiven Ereignissen – kann sich das subjektive Selbst in Solipsismus oder Selbsttäuschungen verlieren.
Wir wissen aus Erfahrung, dass Einsamkeit oder sensorische Deprivation verheerende Folgen haben können. Bei Gefangenen in Isolationshaft geschieht es nicht selten, dass sie ihr Bewusstsein in einzelne Identitätsbereiche aufteilen, in unabhängige Personen mit eigenen Charakteren und Stimmen. Vielleicht verschaffen sie sich auf diese Weise Gesprächspartner.
Extrapolieren wir dies. Stellen wir uns eine ›Person‹ vor, die allein gelebt hat, so isoliert wie ein Schiffbrüchiger auf einer abgelegenen Insel, über Jahrhunderte und vielleicht sogar Äonen hinweg. Ohne externe Geschöpfe als Kommunikationspartner. Nur im Weltraum schwebend, ohne äußere Ereignisse, die der hypothetischen Person dabei helfen, eine Vorstellung von der verstreichenden Zeit zu gewinnen oder Reales von Eingebildetem zu unterscheiden.
Wäre es möglich, dass man sich nach so extrem langer Einsamkeit einzelne, voneinander getrennte Persönlichkeiten vorstellt und schließlich an ihre Existenz glaubt? An Personen, die als Hirngespinste begannen, dann aber so komplex und interessant wurden wie Leute in einer externen Welt oder in einer Vielzahl von Welten? Personen, die miteinander agieren und in ihren Wechselwirkungen die enormen geistigen Belastungen und den Schmerz einer schier endlosen Isolation widerspiegeln?«
Emily schnappte nach Luft. »Daran habe ich nicht gedacht. Aber die Implikationen … Ihren Ausführungen lässt sich entnehmen, dass das Artefakt jene Individuen nicht erfindet, um uns etwas vorzumachen. Vielmehr könnte es sich dabei um ein Anzeichen von Wahnsinn handeln!«
»Diesen Ausdruck habe ich nicht verwendet«, erwiderte die Stimme. »Mir fällt eine andere Bezeichnung ein, optimistischer und weniger verurteilend. Sie könnte auch den ›Pöbel-Effekt‹ erklären, das chaotische Durcheinander von Personen und Bildern.
Die Vielfalt von Außerirdischen, die uns das Artefakt zeigt, muss nicht unbedingt auf böse Absichten oder Irrsinn hinweisen. Es könnte auch sein, dass sie die Sehnsucht eines einsamen Geistes zum Ausdruck bringt. Eines Geistes, der als Botschafter auf den Weg geschickt wurde, mit der Aufgabe, einen Kontakt herzustellen.«
Gerald sah es kommen und sprach es aus, bevor der Berater Gelegenheit dazu erhielt.
»Sie glauben, dass das Artefakt
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