Existenz
faszinierte. Ständig wechselten die Szenen unter der transparenten Oberfläche, von wolkenverhangenen Planeten zu geheimnisvollen Stadtlandschaften, halb hinter Nebelschwaden verborgen. Von Ruinen in Wüsten, halb von Sand zugedeckt, bis zu Meeren, die aus einer öligen, in allen Regen bogenfarben schimmernden Flüssigkeit bestanden. Von weiten Salzebenen mit würfelförmigen Hütten bis hin zu Eisfeldern, in denen sich Spalten öffneten, aus denen Hunderte von schwarzen Spinnenwesen krabbelten und ausschwärmten, um sonderbare graugrüne Klumpen einzusammeln …
Wie zuvor schwebten fremde Wesen näher und versuchten offenbar, sich gegenseitig beiseite zu schubsen. Sie drängten nach vorn, als wollten sie ihre Hände, Pfoten oder Tentakel gegen die Innenseite der Flaschenpost drücken, starrten mit Augen oder anderen visuellen Sinnesorganen auf die Kontaktgruppe.
Hinter Gerald, auf der anderen Seite einer Barriere aus Quarantäne glas, standen Mitglieder der internationalen Kommission, die alle Nationen, Stände und wichtigen Interessenverbände der Erde repräsentierten. Und natürlich gab es noch »alle anderen«, einen großen Teil der Weltbevölkerung, der Schule und Arbeit schwänzte – oder zumindest den Anschein erweckte, seinen Job zu erledigen –, während er in Wirklichkeit die Artefakt-Übertragung verfolgte. Die ökonomische Produktivität fiel auf einen Tiefststand, und niemand schien sich darum zu scheren.
Eine Schar drinnen, die nach draußen sieht, und eine Superschar draußen, die hereinblickt , dachte Gerald. Wobei nicht ganz klar zu sein scheint, welche Gruppe eifriger oder verwirrter ist. Noch immer hatte Gerald gelegentlich den beängs tigenden Eindruck, dass er und seine Kollegen diejenigen waren, die in einem engen Behälter steckten, gefangen in einer simulierten Welt, und dass die Bewohner des Artefakts mithilfe magischer Linsen in eine Art Zoo-Terrarium schauten.
»Wir bekommen weitere Beschwerden über die Verschlechterung des visuellen Signals bei der Sende-Distribution«, berichtete General Akana Hideoshi. »Die bearbeitete Version mit hohem Kontrast kommt bei den Zuschauern nicht gut an und weckt Verschwörungstheorien. Man verdächtigt uns, nicht alles zu zeigen.« Akana schüttelte kummervoll den Kopf.
»Ich weiß nicht, was wir daran ändern könnten«, erwiderte Dr. Emily Tang, die Interface-Spezialistin des Teams. »Die Kontrollinstanzen bestehen darauf, dass wir den Datenfluss sauber halten. Immerhin, was könnte geschehen, wenn sich das Artefakt als eine Art Trojanisches Pferd erweist? Wenn es ein Instrument ist, mit dem Außerirdische einen fremden Software-Virus in unsere Netze bringen wollen? Oder der dazu dient, die Zuschauer zu programmieren? Derartiger parasitärer Code könnte im Bitstrom versteckt sein, steganografisch damit verbunden, so wie man ein harmloses Bild in eine Infektionsquelle verwandeln kann. Die Computer in diesem Gebäude sind isoliert und überwacht. Ebenso wie wir Menschen mit direktem Blickkontakt. Wir können nicht zulassen, dass die Öffentlichkeit Zugang zu einem ungefilterten Datenstrom bekommt!«
Emily wurde bezahlt, um misstrauisch zu sein, auch wenn solche Vorsichtsmaßnahmen sie zum Gegenstand paranoider Gerüchte machten, insbesondere bei den Offenheitsfetischisten dort draußen. Ich kann es ihnen nicht verübeln, dachte Gerald.
Zusammen mit einer Milliarde anderer Menschen war er vom Big Deal enttäuscht worden, als er das oberste Ziel des Vierten, Fünften und Sechsten Standes nicht erreichte: totale Transparenz. Ein Ende der Geheimniskrämerei. Eine Welt, in der Politiker, Zaibatsus, Gilden, Gangs und superreiche Machthaber ganz offen agieren mussten. Zwar behielten die obersten Strip penzieher der Welt Reichtum, Privilegien und rechtsprechende Gewalt, aber wenigstens würden sich ihre Machenschaften nicht mehr hinter den Kulissen abspielen. Alle sollten in aller Öffentlichkeit zeigen, was ihnen gehörte. Eine mächtige Idee, die für kurze Zeit die Massen entzündete …
… bis sie wegverhandelt wurde, als sich alle oberen Kasten dagegen aussprachen. Und heute? Alle wussten, dass der Big Deal eine Notlösung war, mit der man Zeit und ein bisschen Frieden gewann, bis in Aussicht gestellte Techno-Wunder vielleicht wieder Optimismus schufen. Und an technologischen Umwälzungen herrschte gewiss kein Mangel. Allerdings brachte jede von ihnen einen neuen Schock und lauter werdende Rufe nach Verweigerung. Jedes soziale Modell –
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