Existenz
Völkern unter fremden Sonnen. Von entsprechenden Hinweisen unterstützt, übersprangen die Vorfahren des Kuriers Jahrhunderte des Herumprobierens.
Bin dachte an die Diskussion von Paul Menelaua und Anna Arroyo zurück. Er bedauerte sehr, dass sie nicht da waren, und dabei ging es ihm gar nicht so sehr um ihre Freundlichkeit ihm gegenüber. Ihre manchmal recht scharfen Wortwechsel hatten mehr Licht in gewisse Dinge gebracht als einzelne Erklärungen. Bin erinnerte sich an eine Diskussion über die Rolle der Religion in der menschlichen Entwicklung.
Auf jedem Kontinent hatte es so viele verschiedene Kulte gegeben. Von Europa über Asien bis zu den beiden Amerikas: Der Glaube präsentierte sich in allen Formen und Variationen, wies aber eine Gemeinsamkeit auf: Alle verlangten eifersüchtig Gehorsam, ritualistische Wiederholung, die Un terweisung von Kindern und erbitterten Widerstand anderen Sekten gegenüber, wie zum Beispiel der auf der anderen Seite des Tals.
Wie lautete der von Paul verwendete Ausdruck? Für Ideen, die im mensch lichen Bewusstsein Wurzeln schlugen und den betroffenen Geist zwangen, sie weiterzuverbreiten?
Infektiöse Meme, schrieb der KI-Helfer ins Blickfeld von Bins rechtem Auge. Geistige Konstrukte, die sich wie Viren von Mensch zu Mensch ausbreiten und in jedem Betroffenen den Wunsch wecken, zu glauben und mit diesem Glauben wiederum andere anzustecken.
Es fiel Bin nicht unbedingt leicht, dieses Konzept zu verstehen. Was die Geschichte des Planeten Turbulenz betraf, spürte er, wie sich ein gewisser Neid in ihm regte. Die Vorfahren des Kuriers hatten wenigstens Götter gehabt, die deutlich sprachen und praktische Dinge lehrten, jede Generation gesünder und stärker machten. Die meisten menschlichen Kulturen hatten lange Zeit still dasitzen müssen, weil Priester und Aristokraten darauf bestanden, dass sich nichts verändern durfte. Der ständige, konservative Widerstand hatte die Entwicklung des Menschen verlangsamt. Wie viele Jahrhunderte waren für Landwirtschaft und Straßen nötig gewesen, anschließend für bessere Werkzeuge und Schulen, dann für Universitäten und Wissenschaft?
Bins Implantat hielt es für eine Frage, die es zu beantworten galt.
Den Homo sapiens gibt es seit zweitausend Generationen, von der jungsteinzeitlichen Renaissance bis zum Erreichen der Zivilisation.
Davor hat der Homo neanderthalensis 15 000 Generationen überdauert.
Den Homo erectus gab es 50 000 Generationen.
Bin widerstand der Versuchung, das Implantat erneut abzuschalten. So ärgerlich und irritierend es manchmal auch sein konnte, es gab ihm einen Vorteil, wenn er den Eigentümern der mechanischen Seeschlange begegnete.
Aber … zweitausend Generationen? Ihn schwindelte, als er versuchte, sich so viel Zeit vorzustellen. Und einen großen Teil davon hatte die Menschheit in Unwissenheit verbracht, dazu verdammt, in Sackgassen zu geraten und immer wieder von vorn anzufangen. Im Vergleich dazu hatte das Volk des Kuriers eine Abkürzung benutzt, eine bequeme Rolltreppe nach oben.
Bin schrieb es mit seinem Finger, und das Wesen im Weltstein antwortete:
Der Fortschritt mag für dein Volk langsamer und schwerer gewesen sein, weniger kontinuierlich. Aber ihr könnt voller Stolz behaupten, es aus eigener Kraft geschafft zu haben, allein durch eure Anstrengungen.
Und die schnelle Entwicklung hatte ihren Preis. Unter der Anleitung von in Kristallen wohnenden »Göttern« unterlagen Heirat und Fortpflanzung auf dem Planeten Turbulenz einer strengen Reglementierung. Beides erforderte Genehmigung. Die Hälfte der Männer jeder Generation war zeugungsunfähig. Unsere Vorfahren waren monogam gewesen, gesellig, freundlich und entspannt. Die Wesen in den Steinen sorgten dafür, dass Wettstreit und Rivalität immer mehr unser Leben bestimmten, dass wir mit allen Mitteln versuchten, ihre Aufmerksamkeit und Anerkennung zu gewinnen.
Der Kurier setzte die Erzählungen fort und kam zu einer entscheidenden Stelle in der Geschichte seines Volkes. Ein einzelner großer Stamm, angeführt von einem besonders erfolgreichen Himmelsemissär, triumphierte und erlangte Dominanz im größten Teil des Planeten.
Eine Generation später hatten wir Städte.
Fünf Generationen später waren wir im All.
Und daraufhin – erst dann – erfuhren wir, was die Götter von uns wollten.
Bin fühlte, wie seine Anspannung wuchs. Auf der Erde wussten es alle, dank des Havanna-Artefakts. Mit dem Finger schrieb er eine kurze
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