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Existenz

Existenz

Titel: Existenz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brin
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Weise zu stören. Obwohl es ihm immer ironisch erschien. Frühere Zauberer waren Scharlatane. Sie alle. Wir haben Jahrhunderte damit verbracht, gegen den Aberglauben zu kämpfen, Wissenschaft anzuwenden, Demokratie und Vernunft zu erreichen, die objektive Realität zu erkennen –, und letztendlich setzt sich doch das Subjektive durch! Mystiker und Fantasy-Fans haben einfach nur ihren Zeitpfeil umgedreht, aber dies ist die Ära, in der Zauber, Talismane und Beschwörungen funktionieren, mithilfe von diensteifrigen Geräten, die in den Wänden verborgen sind.
    Der Korridor schien auf Ikas Ruf zu reagieren und wurde um Gerald herum dunkler. Die sanfte Wölbung des Gravitationsrads verwandelte sich in den Hang eines Hügels, und glattes Metall gewann die Textur von rauem Fels. Die Plastischaum-Türen sahen mehr aus wie Löcher in den Stämmen riesiger Bäume.
    Alles ganz hübsch, musste Gerald zugeben. Atmosphärisch. Sogar künstlerisch. Es half einem dabei, sich vorzustellen, wie es im Pleistozän zugegangen war, wie viele wundersame und schreckliche Dinge während jener Zeit für Geralds – und auch Ikas – Vorfahren existiert hatten. Allerdings gab es einen wichtigen Unterschied. Der Homo sapiens neigte zu Reaktionen, die in der Natur einzigartig waren: Er versuchte zu verstehen und die Welt zu verändern. Nun, manche Menschen neigten dazu, auf diese Weise zu reagieren.
    Die Neandertaler hatten offenbar eine andere Herangehensweise.
    Was soll ich mir jetzt ansehen?
    Gerald fühlte leisen Spott von Ika, obwohl sie kein Wort an ihn richtete.
    Er sollte sich nichts ansehen . Es ging vielmehr darum, etwas nicht anzusehen .
    Mit einem neuerlichen Seufzen startete Gerald sein Blinder-Fleck-Programm. Vor etwa einem Jahrzehnt war es der letzte Schrei gewesen, als die Neanders zum ersten Mal in größerer Zahl erschienen und die Vielfalt der irdischen Zivilisation bereicherten. Alle Säugetieraugen haben einen Fehler, eine Stelle, an der der Sehnerv durch die Netzhaut dringt – an dieser Stelle kann das Auge nichts sehen. Für gewöhnlich ignorierten die Menschen ihren blinden Fleck, der ein Stück von der Fovea entfernt war, wohin die Linse jene Bilder schickte, an denen einem wirklich etwas lag. Und Augen bewegten sich ständig, gaben dem Gehirn damit genug Daten, um über die blinde Stelle hinwegzutäuschen, mit dem Ergebnis, dass die meisten Leute nie etwas davon merkten. Man musste üben – oder Computerhilfe in Anspruch nehmen –, um sie zu finden.
    Gerald schloss ein Auge. Mit KI-Hilfe entspannte er das andere und richtete den Blick weg von der Stelle des Korridors, auf die Ika mit ihrem virtuellen Zauberstab gezeigt hatte. Es wurde noch etwas dunkler …
    Und schließlich war Gerald imstande, etwas nicht zu sehen, unter und seitlich von dem Bereich, auf den das Auge gerichtet war. Es kostete ihn eine gewisse Anstrengung, nicht hinzusehen, denn wenn er den Blick darauf gerichtet hätte, wäre das, was er nicht sah, verschwunden. Es gelang ihm, der Versuchung zu widerstehen und sich zu entspannen. Und nicht zu sehen.
    Cobblys . Es wäre leicht gewesen, sie als rein mythisch abzutun, denn Cobblys hatten keine realen Effekte in der realen Welt, waren nichts, das der Homo sapiens mit seinen Instrumenten der Wissenschaft messen konnte. Doch die größten Autis und viele Neanders schworen, dass sie es wert waren, nicht zur Kenntnis genommen zu werden!
    Ein weiterer Name für sie lautete Antigoniten , nach einem Gedicht von Hughes Mearns:
    Gestern, auf dieser Treppe hier
    Ein Niemand stand da neben mir.
    Auch heute war er wieder da.
    Ohne dass ihn jemand sah.
    Gerald glaubte, etwas zu erkennen. Etwas wie einen Schatten, oder etwas mehr als einen Schatten, oder weniger.
    Er wusste auch, wie schnell einem die eigene Fantasie einen Streich spielen konnte. Alle vier Spezies der Menschheit, sogar die Silizium-Variante, neigten dazu, das Unsichtbare oder Undeutliche mit Gefahren zu verbinden, mit dunklen Geheimnissen und Hinweisen auf ernste Konsequenzen.
    Schwer errungene wissenschaftliche Angewohnheiten leisteten Widerstand und drängten ihn, von düsterem, unbegründetem Argwohn Abstand zu nehmen.
    Sowohl die Wissenschaft als auch Mystiker des Ostens lehren den Beobachter, sich vom eigenen Ego zu trennen, um das Unbeschreibliche zu erkennen. Seltsam, ich habe nie daran gedacht: Buddhisten und Physiker sind bei so vielen Dingen unterschiedlicher Meinung, aber diese zentrale Vorschrift ist ihnen gemeinsam: Man widerstehe dem

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