Existenz
und den meisten von ihnen nur en passant. Einige treffen wir in wichtigen Momenten; andere begleiten uns durch jahrzehntelange Phasen unseres Lebens. Die Biologie kann damit nicht Schritt halten. Unsere überarbeiteten Schläfenlappen können sich nicht an die Gesichter, Namen und individuellen Besonderheiten von zehn Milliarden Menschen erinnern!«
Ein Warnlaser blitzte über den Boden, direkt vor einem unaufmerksamen Fußgänger, der erschrocken vor dem Verkehr zurücksprang. Tor hörte ein Kichern. Einige Elf- oder Zwölfjährige mit Brillen richteten wackelnde Finger auf den nervös gewordenen Fußgänger und bemalten ihn auf einem VR-Level, das sie für vollkommen privat hielten. Tor standen durchaus Möglichkeiten zur Verfügung, sich Zugang zu den spöttischen Überschriften zu verschaffen, aber sie lächelte nur. In einer größeren Stadt waren respektlose Kids weniger unverfroren. Technisch gewiefte Erwachsene kannten Mittel, es ihnen heimzuzahlen.
»Wo bin ich stehen geblieben? Oh, ja … Unsere biologische Erinnerung kann nicht Schritt halten.
Deshalb verbesserten wir sie mit Pässen, Kreditkarten und Bargeld – ein Totem-Ersatz für altmodischen Ruf, damit Fremde Geschäfte machen konnten. Und selbst diese Prothesen versagten beim Großen Raub.
Die dicke Brieftasche ging also online. Augen und Hirn, unterstützt von KI und Datenknoten. Der Halbgott-Effekt. Deus ex machina. Und der Ruf wurde erneut mit sofortigem Erkennen verbunden. Jemals gegen das Gesetz verstoßen? Eine Schuld verleugnet? Fahrlässige oder böswillige Gerüchte in die Welt gesetzt? Dann könnte es Flecken auf der virtuellen weißen Weste geben, Flecken, die einen überallhin begleiten. Es nützt nichts, sich einen neuen Namen zuzulegen oder in einer anderen Stadt von vorn anzufangen. Insbesondere wenn die Leute zu vorverurteilender Wahrnehmung neigen … oder wenn sich ihre Algebra des Verzeihens von der eigenen unterscheidet.
Was folgt daraus? Wir nehmen alles als gegeben hin … bis uns das ›Normale‹ mitten ins Gesicht schlägt. Wir werden Halbgötter, bis wir uns plötzlich in jenem kleinen Dorf wiederfinden.«
Das war vermutlich der Grund, warum MediaCorp Tor beauftragt hatte, quer durch den Kontinent zu reisen und Geschichten mit menschlicher Perspektive zu erzählen. Um der neuen Reporterin Gelegenheit zu geben, ihre küstenurbanen Annahmen zu überdenken. Damit sie verstand, warum Millionen Nostalgie Allwissenheit vorzogen. Himmel, selbst Wesley brachte auf seine Art und Weise so etwas wie Wehmut zum Ausdruck. Die vage Gewissheit, dass früher alles besser war.
Der flüchtige Gedanke an Wesley ließ Tor erzittern. Seine Nachrichten enthielten nun das Versprechen, nach D. C. zu fliegen und sie dort zu treffen. Keine geistlosen Scherze mehr, die eine Fernbeziehung via verlinkter Puppen betrafen. Diesmal … ernste Gespräche über ihre Zukunft. In Tor regte sich die fast schmerzhafte Hoffnung, ihn am Zepp-Hafen zu sehen, nach der letzten Etappe ihrer Reise.
Tors goldener Pfad endete vor einem grauen Sandsteingebäude. ATKINS-ZENTRUM FÜR EMPATHISCHE AUGMENTATION lautete der gütige Titel eines Programms, das vor dem Umzug nach New Mexico in Charleston für Krawalle gesorgt hatte. Hier hielten nur zwei halbherzige Demonstranten Wache und überließen IP-Plakaten das Geschrei. Sie gingen hart an die zulässigen Grenzen virtueller Verschmutzung, indem sie Redefreiheit-Sticker ans Gebäude klebten, so viele, dass die Säuberungsprogramme sie nicht schnell genug entfernen konnten. Auf einem Vir-Level schwangen Hausmeister-Avatare mit den Emblemen der Darktide Services Cartoon-Besen und fegten die virtuellen Protestler weg.
Tor sah sich ein eFlugblatt an, das ihre Aufmerksamkeit bemerkte und größer wurde.
Autisten brauchen keine »Heilung«!
Ein anderes Flugblatt heulte und blähte sich auf.
Ein Gott ist genug!
Weitere animierte Parolen drängten näher und versuchten, Tors Blickfeld zu füllen. Sie bereute ihre Neugier, biss auf den CANCEL-Zahn und entkam dem eSchwarm, aber nicht bevor ein weiteres Protest-Spruchband wie ein Schmetterling auf sie zuflatterte.
Lasst die menschliche Natur in Ruhe!
Das Brillen-Overlay filterte die eSprüche aus Tors Wahrnehmung, und sie dachte: Oh, klar, genau das wird passieren.
Sie näherte sich der Treppe des Atkins-Zentrums und merkte, wie sie die Aufmerksamkeit der realen Demonstranten weckte – sie sahen sie durch dicke, bunte Linsen an. Welche Gruppe auch immer sie
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