Existenz
in Albuquerque war die Polizei privatisiert und zurückhaltend aggressiv.
Eine Woche nach Beginn ihrer Menschlicher-Touch-Tour hatte Tor eine neue Vorstellung vom balkanisierten Amerika. Es hatte beim Ausstieg aus dem Zeppelin begonnen, als sie von einem Darkside-Mitarbeiter aufgefordert worden war, eine der öffentlichen Duschen zu benutzen, weil ihr bevorzugter Körpergeruch – legal in Kalifornien – einer in New Mexico verbotenen pheromonischen Lockmischung zu nahe kam. Oh, Gott segne den einunddreißigsten Zusatzartikel und das Föderalismusgesetz.
Nach dem Einchecken im Radisson und der ersten Erkundungstour zu Fuß durch die Stadt musste Tor eingestehen, dass Albuquerque einen gewissen ans zwanzigste Jahrhundert erinnernden Charme hatte. Man nehme nur den Verkehr. Zahlreiche Fahrzeuge – Alkis, Elektros und sogar einige Retro-Stinker – drängelten und hupten auf Kreuzungen, wo man den knalligen Plakattafeln und der Leuchtwerbung nicht entkommen konnte; sie schrien ihre Botschaft alle auf Kanal eins, dem Layer, den man nicht abschalten kann, weil er real ist. Internationale Restaurants, Lebensmittelautomaten, Bioskulptur-Studios und Poesiesalons standen dicht an dicht in kleinen, altmodischen Promenaden. Ihre Schilder versprachen prächtige Pigmente oder extravagantes Neon, in lebenden Farben und Texturen, die keine VR nachahmen konnte. Tor war froh, beim Hotelportier kein aufblasbares Taxi gemietet zu haben und stattdessen zu Fuß gegangen zu sein, aber sie hielt auch eine erhöhte Wachsamkeit für angeraten.
»Es ist alles ziemlich ironisch«, murmelte sie und machte sich mündliche Notizen, während sie sich auf der Kreuzung langsam drehte. »In Städten mit unbeschränkter Virtualität gibt es eine allgemeine Verringerung des visuellen Durcheinanders auf Ebene eins. Los Angeles und Seattle erscheinen mit ihrer schlichten, würdevollen Beschilderung … sittsam und prüde, fast ländlich. Warum eine Plakattafel aufstellen, wenn die Leute den Anblick von ihrer Brille herausfiltern lassen? Doch hier im Landesinnern gibt es viele, die gar keine Brille tragen! Deshalb konzentrieren sich Werbung und Reklame in dem einen Layer, den niemand vermeiden kann.
Wer die bunten Lichter des alten Times Square vermisst, sollte hierher in die Wüste kommen, nach Albuquerque.«
Na bitte, dieser Nachrichtenschnipsel sollte einen AA-Pod-Rang erreichen, mit einem zusätzlichen Glaubwürdigkeitsbonus ihrer Fans. Obwohl dieses Chaos ein armes Stadtmädchen wie sie ein bisschen überforderte, ohne Lautstärke- oder Helligkeitsregler, mit denen man alles herunterdrehen konnte. Doch den Einheimischen schien es zu gefallen. Vielleicht waren sie abgehärtet.
Vive les différences … der Slogan einer Ära.
Natürlich gab es auch hier Virtuelles. Nur Höhlenmenschen hätten so etwas wie Overlay-Karten abgelehnt. Der beste Weg zu Tors Ziel war auf den Gehsteig geschrieben – diesen Eindruck vermittelte ihre Brille –, in gelben Markierungen, die sich nur ihr darboten. Sie konnte auch Personen-Überschriften für die Leute abrufen, denen sie begegnete. Allerdings wurde hier für jeden Abruf dieser Art eine kleine Voyeur-Steuer fällig!
Meine Güte. Eine Abgabe für Namensschilder? Ist die Welt nicht ein Dorf?
Die gelbe Spur führte sie an drei Kreuzungen vorbei, wo Signale blinkten und Fahrer noch immer Lenkräder umklammerten. Tor wich einem Farmer aus, dessen Tragboter mit mehreren Säcken beladen war, die Nitro-Fix-Weizensaat enthielten, denn einer Gruppe von Furchtbartag-Traumatisierten, die außerhalb des lokalen Schutzraums murmelten. Die Werbung einer Drogerie sprang Tor aggressiv entgegen und pries Sonderangebote, die Oxytocin, Vasopressin und Tanks mit Hydrogensulfid betrafen. Sehe ich wirklich so deprimiert aus? , fragte sie sich und blinzelte die aufdringliche Reklame weg.
Aus reiner Angewohnheit kehrte sie in den Reportermodus zurück, sprach dabei aber nicht laut, sondern subvokal in ihren Boswell-Recorder.
»Während des allergrößten Teils seiner Geschichte lebte der Mensch in Stämmen und kleinen Dörfern, wo jeder jeden kannte. Wenn einmal Fremde erschienen, was selten genug geschah, bewirkten sie Furcht oder Staunen. Im Zeitraum eines Lebens begegnete man höchstens einigen Tausend Menschen – an etwa so viele Gesichter und Namen können sich die meisten Leute erinnern. Die Evolution gibt uns nur das, was wir brauchen.
Heute begegnen wir mehr Personen, als sich unsere Vorfahren vorstellen konnten,
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