Existenz
sich keine subvokalen Fehler leisten. Außerdem war altmodisch billiger.
Er setzte einen Fluch auf den Schlaf des alten Knackers und band das Seil so fest, dass die Kameras sein Bergungsgut deutlich sehen konnten. Dann kletterte er den Strebebalken hoch, sprang über die Lücke und landete auf dem Dach der Villa, die einst zwei Millionen New Hong Kong Dollar wert gewesen war. Jetzt gehörte sie ihm, wenn er seinen Anspruch geltend machen konnte.
In den alten Zeiten wäre es einfacher gewesen. Das wusste Bin aus den Dramen, die er sich jeden Abend mit Mei Ling ansah, wenn sie erschöpft in ihrem Netzbett lagen. Damals, als alle große Familien hatten und man zu einem Clan gehörte, als alle wie ein Fischernetz miteinander verknüpft waren. Cousins halfen Cousins.
Zugegeben, die Leute damals hatten keine Tech-Wunder besessen. Aber ich hätte Kontakte in der Stadt gehabt, Verwandte, denen ich mein Bergungsgut verkaufen könnte. Und vielleicht einen reichen Onkel, der klug genug wäre, in eine wagemutige Küstenimmobilie zu investieren.
Nun, man konnte wenigstens träumen.
Bin nahm den Strohhut ab und beobachtete den Horizont, von den fernen Türmen Alt-Schanghais bis nach Groß- und Klein-Pudong, wo man die Fahrbetriebe des Schanghai-Universums von Disney und des Affenkönigs sehen konnte. Sein Blick glitt weiter über die große Meermauer und das überflutete Landschaftsschutzgebiet der Insel Chongming, bis dorthin, wo der breiter werdende Huangpu ins Ostchinesische Meer mündete. Das breite Mündungsgebiet war übersät von Schiffen aller Art, von riesigen Container-Transportern, ausgestattet mit Segeln wie eingefangene Wolken, bis hin zu einfachen Fischerbooten und Sampans. Ganz in der Nähe drängte die auflaufende Flut gegen eine doppelte Reihe halb zerstörter Häuser, in denen Bin und einige Hundert andere Küstenbewohner ihre Hängematten gespannt hatten, die in der steifen Brise wie Kokons schaukelten.
Jede frühere Villa stand jetzt allein da, eine kleine Insel, die aus dem steigenden Meer ragte, nahe bei der Stadt und doch in jeder praktischen Hinsicht weit von ihr entfernt.
Vielleicht zieht ein Sturm herauf. Bin glaubte, ihn riechen zu können.
Er drehte sich um und ging übers Dach. Hier trennten ihn nur wenige Hundert Meter von der glitzernden Stadt weiter vorn, jenseits der neuen Brandungslinie und einer massiven grauen Barriere, die bis in halber Höhe Flecken vom diesjährigen Hochwasser trug. Eine Welt des Geldes und zuversichtlicher Ambition erstreckte sich auf der anderen Seite, viel lebhafter als Alt-Schanghai mit dem Nachglühen des Furchtbartags.
Bin achtete darauf, wohin er den Fuß setzte, als er über die Tonziegel im alten Stil ging, vorbei an den Solarkollektoren, von denen er hoffte, sie eines Tages wieder in Betrieb nehmen zu können. Vorsichtig wich er breiten, linsenartigen Verdampfungspfannen aus, die er jeden Morgen füllte und die nicht nur etwas Süßwasser lieferten, sondern auch Strom und Salz, das er verkaufen konnte. Wo das Dach noch stabil genug war, recycelten Gartenkästen organische Abfälle und ließen Kräuter und Gemüse wachsen. Zu viele Küstenbewohner verloren ihre Ansprüche, weil sie ihren Kot achtlos dem Wasser überließen.
Man konnte durch gesplitterte Ziegel und morsches Sperrholz fallen, und deshalb hielt sich Bin an den Weg, den er immer genommen hatte, seit dieses Durcheinander aus schiefen Wänden und zerbröckelndem Stuck zu seinem Zuhause geworden war. Es kann uns gehören, wenn wir ein wenig Glück haben.
Bin schnappte sich ein bisschen Grünzeug für seine Frau und richtete dabei einen prüfenden Blick auf die Rohre und Spannseile, die übers Dach reichten und alles zusammenhielten, wie das Segel eines Schiffes, das irgendwohin unterwegs war. Oder wie einen hoffnungsvollen Kokon. Oder vielleicht wie das Netz einer Spinne.
Und wie eine Spinne musste Mei Ling etwas gespürt haben. Sie steckte den Kopf durch die Schornsteintür. Ihr pechschwarzes Haar war hinter den Ohren geflochten und dann unterm Kinn zusammengebunden – eine neue urbane Mode, die sie im Web gesehen hatte.
»Xin Pu Shi hat den Kram nicht genommen«, vermutete sie.
Bin zuckte die Schultern, während er eins der Kabel spannte, die das Gerüst vor dem Einsturz bewahrten. Einige der Pfähle – so viele er sich leisten konnte – bestanden aus haltbarem Metalon und waren ins alte Fundament getrieben. Mit genug Zeit und Geld konnte hier etwas Neues entstehen und den Tod des alten
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