Exit
anders, als ich erwartet hatte - er übrigens auch. Sie passen eher in ein Öko-Restaurant als in einen Golfklub. Und auch untereinander sind sie sehr verschieden. Sie ist ausgesprochen… ja, ›einfach‹ ist wohl das Wort. Besonders für die Schwiegertochter eines hohen Tiers. Bei Chip kann man noch erkennen, daß er aus reichem Hause kommt, wenn er auch nicht gerade wie ein zukünftiger Großerbe aussieht.«
»Meinst du den Ohrring?«
»Der Ohrring, sein Beruf, sein ganzes Auftreten. Er sprach davon, daß er in seiner Kindheit unter großem Druck gestanden hätte, dadurch sei er zum Rebellen geworden. Vielleicht gehörte die Heirat mit Cindy zu dieser Rebellion. Er ist zwölf Jahre älter als sie. War sie vielleicht einmal seine Studentin?«
»Könnte sein, ich weiß nicht. Spielt das eine Rolle im Rahmen der Münchhausen-Theorie?«
»Nicht direkt. Ich spiele nur verschiedene Gedanken durch. Für ein Münchhausen-Profil ist es noch viel zu früh. Sie kennt sich ein bißchen in medizinischem Jargon aus und identifiziert sich stark mit Cassie. Sie denkt, sie hat eine fast telepathische Verbindung zu ihr. Die äußerliche Ähnlichkeit zwischen den beiden ist frappierend - Cassie sieht aus wie eine Miniaturausgabe ihrer Mutter. Das könnte die Identifikation noch verstärken.«
»Wenn Cindy sich selbst haßt, könnte sie also ihren Selbsthaß auf Cassie projizieren.«
»Möglich, doch von einer endgültigen Interpretation bin ich noch weit entfernt. Sah der kleine Junge ihr auch so ähnlich?«
»Ich hab ihn nur tot gesehen, Alex. Er war ein hübscher kleiner Junge, das ist alles, woran ich mich erinnere. Aber als ich ihn zu sehen bekam, war er grau wie diese Engelsstatuen, die sich die Leute in den Garten stellen. Wenn ich ehrlich bin, tat ich mein Bestes, nicht hinzuschauen.«
Sie rieb sich die Augen und schaute an die Decke. Dann nahm sie eine ihrer kleinen Tassen und schaltete die Kaffeemaschine ein. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf. »Ach, Alex, vielleicht kann das Koffein unsere Sorgen lindern. - Da fällt mir ein: Du hattest mich doch um diese Literaturliste gebeten …«
Sie gab mir ein Blatt Papier von ihrem Schreibtisch, eine Liste von zehn Artikeln.
»Danke.«
»Ist dir an Cindy sonst noch etwas aufgefallen?«
»Von dramatischer Selbstdarstellung kann bis jetzt keine Rede sein, im Gegenteil, sie wirkte sehr gelassen, aber auch das nicht in übertriebenem oder auffälligem Maß. Von Chip weiß ich, daß sie von einer Tante großgezogen wurde, und die war zufällig auch Krankenschwester. Das heißt, sie hatte schon vor ihrer Ausbildung Kontakt mit der Krankenhauswelt. Aber das ist alles zu dünn, um Schlüsse daraus zu ziehen. Als Mutter scheint sie ihre Sache gut zu machen, vorbildlich sogar.«
»Und die Beziehung zu ihrem Mann? Hast du irgendwelche Spannungen bemerkt?«
»Nein. Und du?«
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich dachte, ihr hättet besondere Tricks, um so etwas festzustellen.«
»Meine Trickkiste hab ich heute zu Hause gelassen. Nein, sie scheinen sich sehr gut zu verstehen.«
»Eine glückliche Familie also. Ist dir so ein Fall je untergekommen?«
»Noch nie«, mußte ich zugeben. »Münchhausens meiden Psychologen und Psychiater wie die Pest, denn sobald sie uns sehen, wissen sie, daß niemand ihre Krankheiten ernst nimmt. Was mir schon begegnet ist, sind Leute, die von Arzt zu Arzt rennen, Eltern, die überzeugt sind, daß etwas nicht stimmt mit ihren Kindern, und die einen Spezialisten nach dem anderen aufsuchen, obwohl echte Symptome nie gefunden werden. Manche Ärzte, die von solchen Leuten verrückt gemacht wurden, pflegten sie dann in meine Praxis zu überweisen. Doch wenn sie überhaupt auftauchten, waren sie sehr feindselig und ließen sich nach dem ersten Termin meist nicht mehr blicken.«
»Ich hab von solchen Fällen gehört, sie jedoch nie als Mini-Münchhausens aufgefaßt.«
»Es könnte sich um dieselbe Dynamik handeln, nur auf einem anderen, weniger gefährlichen Niveau. Dieselbe Besessenheit von Krankheiten, derselbe Drang nach Aufmerksamkeit seitens Autoritätspersonen, mit denen sie dann Katz und Maus spielen.«
»Was hältst du denn von Cassie? Wie hat sie reagiert?«
»Genau wie du es beschrieben hast. Sie spielte verrückt, als sie mich zuerst bemerkte, doch am Ende beruhigte sie sich.«
»Dann ergeht es dir besser als mir.«
»Ich piekse sie auch nicht mit langen Nadeln, Steph.«
Sie lächelte säuerlich. »Vielleicht hab ich das falsche
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