Exit
Saal war leer. Ich ging hinein und versuchte die Verbindungstür zur Bibliothek: unverschlossen.
Der fensterlose Raum war stockdunkel. Ich schaltete das Licht ein. Die meisten Regale waren leer. Auf anderen stapelten sich unsortierte Zeitschriften. Die einzigen Bücher, die zu sehen waren, lagen auf dem Boden verstreut.
Der Computer, mit dem ich mich früher an die Medline-Datenbank angeschlossen hatte, war verschwunden, ebenso der Katalogschrank aus Eichenholz mit seinen handbeschriebenen Pergamentetiketten. Das einzige verbliebene Möbelstück war ein grauer Stahltisch, auf dem ein drei Monate altes Memorandum klebte:
An: Alle Angestellten Von: G. H. Plumb, MBA, DBA, Leiter der Verwaltung Betreff: Bibliothek/Umrüstung Auf vielfachen Wunsch der Belegschaft und nach Zustimmung des Forschungskomitees, des Aufsichtsrats und des Finanzkomitees im Vorstand wird der Bibliothekskatalog auf ein voll rechnergestütztes System unter Verwendung von Standard-Software des Typs Orion/Melvyl übertragen. Der Auftrag zur Durchführung dieser Umrüstung ist offen ausgeschrieben und nach sorgfältiger Abwägung und Kosten-Nutzen-Rechnung an die Firma BIO-DAT, ansässig in Pittsburgh, Pennsylvania, ein Unternehmen, das auf medizinische und wissenschaftliche Bibliothekssysteme und auf Computervernetzung im Gesundheitsbereich spezialisiert ist, vergeben worden. Vertreter von BIO-DAT haben uns versichert, daß alle Arbeiten im Rahmen ihres Auftrags in etwa drei Wochen abgeschlossen werden können, sobald sie alle relevanten Daten erhalten haben. Der Katalog verbleibt für die Dauer der Arbeiten beim BIO-DAT-Hauptquartier in Pittsburgh und wird danach zwecks Lagerung und Archivierung an uns zurückgeliefert. Ich danke Ihnen für Ihre Kooperation und Geduld während der Umrüstungsphase.
Aus drei Wochen waren drei Monate geworden. Ich schaltete das Licht aus und ging.
Die biologisch-medizinische Bibliothek der Universität war überfüllt. Vor einem der Monitore entdeckte ich ein bekanntes Gesicht.
Wann hatte ich sie das letztemal gesehen? Es mußte drei Jahre her sein, also war sie jetzt etwa zwanzig. Ihr spitzbübisches Gesicht und die tiefblickenden Augen hatten sich nicht geändert, auch nicht ihre Vorliebe für große Ohrringe. Das dunkelblonde Haar, das sie früher kurz getragen hatte, reichte ihr jetzt bis auf die Schultern. Ob sie wohl an ihrem Doktor war?
Sie tippte geschwind auf der Tastatur und ließ wechselnde Textseiten über den Bildschirm huschen. Als ich näher trat, sah ich, daß der Text in Deutsch war. Das Wort »Neuropeptide« fiel mir auf.
»Hallo, Jennifer.«
Sie drehte sich um. »Alex!« rief sie mit einem strahlenden Lächeln. Sie erhob sich vom Stuhl und küßte mich auf die Wange.
»Darf ich dich schon Dr. Leavitt nennen?« fragte ich.
»Erst im Juni. Ich schreibe noch zusammen.«
»Gratuliere. Geht es um Neuroanatomie?«
»Neurochemie - ist doch viel praxisbezogener, findest du nicht?«
»Hast du immer noch vor, danach Medizin zu studieren?«
»Ja. Im Herbst will ich anfangen, in Stanford.«
»Psychiatrie?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht werde ich lieber etwas anderes machen etwas Konkreteres, wenn's geht.«
»Hast du noch Kontakt mit Leuten aus der alten Gruppe?«
Die alte Gruppe. Projekt 160, wie IQ 160. Studium im Eilzugtempo für Kinder mit dem Intelligenzquotienten eines Genies. Ein tolles Experiment. Eins der Gruppenmitglieder endete vor Gericht, angeklagt wegen Massenmordes. Irgendwie hatte ich damit zu tun bekommen und war in eine Hölle von Haß und Korruption geraten. Nun stand ich zum zweitenmal an jenem Tag der Vergangenheit gegenüber. Ich merkte, wie viele Dinge ich unabgeschlossen zurückgelassen hatte.
»Was machst du hier?« fragte sie mich.
»Literaturstudium für einen neuen Fall.«
»Verrätst du mir, worum es sich handelt?«
»Stellvertreter-Münchhausen. Schon mal davon gehört?«
»Münchhausen-Syndrom ist mir geläufig. Das sind Leute, die sich selbst mißhandeln, um Krankheiten vorzutäuschen, nicht wahr? Aber was bedeutet der ›Stellvertreter‹?«
»Das heißt, daß die Leute Krankheiten bei ihren Kindern vortäuschen.«
»Wie schauderhaft. Und was für Krankheiten sind das für gewöhnlich?«
»Atemprobleme, Blutungen, Fieber, Infektionen, epileptische Anfälle und dergleichen.«
»Und mit einer solchen Familie hast du zu tun?«
»Das muß ich erst herausfinden. Ich bin noch bei der Profilerkennung. Und ich habe ein paar Literaturhinweise bekommen, denen
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