Exit
anderen Faktor geben kann, den ich übersehen habe. Andauernd taucht irgend etwas Neues auf - ich schaffe es kaum, mit den Veröffentlichungen Schritt zu halten.«
Sie rührte nervös in ihrem Kaffee.
»Oder vielleicht lüge ich mir auch nur in die Tasche - vielleicht versuche ich mir nur ein besseres Gefühl zu verschaffen, weil ich die Münchhausen-Geschichte nicht früher erkannt habe. Deshalb habe ich dich hergerufen - ich brauche deinen Rat, Alex. Wie soll ich weiter verfahren?«
Ich dachte eine Weile nach. Münchhausen-Syndrom. Alias Pseudologia phantastica. Alias Simulationssucht. Eine besonders groteske Form krankhaften Lügens, benannt nach dem Freiherrn von Münchhausen, dem legendären Lügenbaron.
Münchhausen in seiner einfachen Form ist zum Wahnsinn entartete Hypochondrie. Patienten täuschen Erkrankungen vor, indem sie sich selbst verstümmeln und vergiften oder indem sie einfach Lügen erzählen. Sie verwickeln Ärzte und Pflegepersonal, das ganze Gesundheitssystem in Psychospielchen. Erwachsene Münchhausenpatienten schaffen es, ohne medizinische Notwendigkeit wiederholt in Krankenhäuser eingewiesen zu werden, und landen sogar auf dem Operationstisch. Masochismus, bemitleidenswert und ratlos machend - eine Geisteskrankheit, die sich bis heute unserem Verständnis entzieht.
Doch was wir hier vor uns hatten, war jenseits allen Mitleids. Dies war die böse Variante: übertragener Münchhausen - Münchhausen per Stellvertreter. Eltern - meistens die Mütter - täuschen Erkrankungen ihres eigenen Nachwuchses vor. Sie benutzen ihre Kinder - besonders Töchter - als Gefäße für ein gräßliches Gebräu aus Lügen, Schmerz und Krankheit.
»So vieles paßt zusammen, Steph, von Anfang an. Atemstillstand und Bewußtlosigkeit könnten auf Ersticken zurückzuführen sein - die Ausschläge in den Monitorkurven könnten bedeuten, daß das Kind sich wehrte.«
»Kürzlich las ich von einem Fall in England, bei dem solche Bewegungsartefakte verrieten, daß eine Frau versuchte, ihr Baby zu ersticken.«
»Es würde auch ins Bild passen, daß die Mutter, mit ihrer Ausbildung in Wiederbelebungstechniken, zuerst mit dem Atmungssystem herumspielt. Was ist mit den Darmgeschichten? Irgendeine Vergiftung vielleicht?«
»Höchstwahrscheinlich, aber nichts, was mit unseren Tests nachzuweisen war.«
»Vielleicht benutzte sie etwas mit kurzer Wirkungsdauer.«
»Oder einen Reizstoff, der Magen und Darm in Aufruhr versetzt und sofort wieder ausgeschieden wird, ohne in die Blutbahn zu gelangen.«
»Und die Anfälle?«
»Dito, würde ich schätzen. Aber ich weiß es nicht, Alex, ich weiß wirklich nicht.« Sie drückte wieder meinen Arm. »Ich habe keinerlei Beweise. Was ist, wenn ich mich irre? Du mußt objektiv sein mit Cassies Mutter. Im Zweifel müssen wir alles zu ihren Gunsten auslegen - vielleicht schätze ich sie ja falsch ein. Versuch, dich in sie hineinzudenken. Wir müssen weiterkommen, der Fall könnte sonst in einer echten Katastrophe enden.«
»Hast du der Mutter gesagt, daß du mich hinzuziehen willst?«
Sie nickte.
»Steht sie einer psychologischen Beratung jetzt freundlicher gegenüber?«
»Freundlich würde ich es nicht nennen, aber sie hat zugestimmt. Ich glaube, ich habe sie überzeugt, indem ich in letzter Zeit jede Andeutung vermied, daß Streß die Ursache für Cassies Probleme sein könnte. In ihren Augen halte ich die Anfälle für organisch bedingt. Ich gab ihr lediglich zu verstehen, daß Cassie Hilfe braucht, um mit dem Trauma der Hospitalisierung zurechtzukommen. Ich sagte ihr, daß Cassie noch sehr viel mehr Zeit hier verbringen würde, wenn es sich um Epilepsie handelt, und daß wir ihr helfen müßten, damit fertig zu werden. Ich habe ihr erzählt, du seist Spezialist für Krankenhaustraumen und könntest eine Art Hypnose anwenden, die Cassie während der Behandlungen entspannen würde. Klingt das vernünftig?«
Ich nickte.
»Gleichzeitig kannst du die Mutter analysieren und sehen, ob sie eine Psychopathin ist.«
»Wenn es übertragener Münchhausen ist, dann haben wir es eventuell gar nicht mit einer Psychopathin zu tun.«
»Was denn sonst? Wer könnte dem eigenen Kind so etwas antun?«
»Das weiß niemand so richtig«, erwiderte ich. »Es ist eine Weile her, daß ich die Literatur studiert habe. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Variante von Persönlichkeitsstörung. Die Schwierigkeit ist, daß es so nur wenige dokumentierte Fälle gibt; die Datenbasis ist sehr
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