Exodus
an der Wand aus Stacheldraht entlang. Er sah draußen die englischen Wachtposten auf und ab gehen. Am Ende der langen Wand aus Stacheldraht stand ein Wachtturm, ausgerüstet mit Maschinengewehr und Scheinwerfer. Stacheldraht — Maschinengewehre — Wachtposten —.
Wann in seinem Leben war er einmal nicht hinter Stacheldraht gewesen? Gab es das wirklich, ein Leben ohne Stacheldraht, Maschinengewehre und Wachtposten? Es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern. Es lag so weit zurück, zu weit. ..
WARSCHAU, SOMMER 1939
Mendel Landau war ein kleiner Warschauer Bäcker. Verglichen mit Professor Johann Clement lebte er am anderen Ende der Welt. Mendel Landau und Johann Clement hatten in der Tat absolut nichts gemeinsam. Aber beide waren Juden.
Deswegen mußte jeder von ihnen auf die Frage nach der Einstellung zu seiner Umwelt seine eigene Antwort finden. Professor Clement hatte sich bis zuletzt an die Idee der Assimilation geklammert. Mendel Landau war zwar ein schlichter, einfacher Mann, hatte aber gleichfalls über dieses Problem nachgedacht. Er war allerdings zu einem völlig anderen Ergebnis gelangt.
Im Gegensatz zu Clement hatte Mendel Landau in einer Umgebung gelebt, die ihm das Bewußtsein eingeprägt hatte, ein Fremder zu sein, ein Eindringling. Siebenhundert Jahre lang waren die Juden in Polen allen möglichen Formen der Verfolgung ausgesetzt gewesen, angefangen von Mißhandlungen bis zum Massenmord. Sie hatten im Ghetto gelebt, hinter hohen Mauern, die sie von der Umwelt trennten.
In diesem Ghetto aber war etwas Sonderbares geschehen. Dort hatte sich das religiöse und kulturelle Eigenleben der Juden vertieft, statt zu erlöschen, und ihre Zahl war ständig größer geworden. Da sie gewaltsam von der Außenwelt isoliert waren, hielten sich die Juden immer strenger an die mosaischen Gesetze, und diese Gesetze waren zu einem mächtigen Band geworden, das sie untereinander fest zusammenhielt. In den jüdischen Gemeinden, die im Ghetto ganz auf sich selbst gestellt waren, entwickelte sich ein besonders fester familiärer und kommunaler Zusammenhalt, der auch nach der Abschaffung des Ghettos bestehenblieb.
Die jahrhundertelangen Verfolgungen hatten ihren grausigen Höhepunkt im Jahre 1648 erreicht, als bei einem Kosakenaufstand eine halbe Million Juden umgebracht wurde. Das finstere Mittelalter, das im westlichen Europa sein Ende gefunden hatte, schien im polnischen Ghetto weiterzuleben.
Zu allen Zeiten der jüdischen Geschichte hatte es immer dann, wenn es besonders bedrohlich und hoffnungslos aussah, Männer unter den
Juden gegeben, die mit dem Anspruch auftraten, der neue »Messias« zu sein. Gleichzeitig entwickelte sich die jüdische Mystik, die sich bemühte, biblische Erklärungen für die jahrhundertelangen Leidenszeiten zu finden. Mit ihrer verwickelten Geheimlehre, der Kabbala, versuchten die jüdischen Mystiker, den heiligen Schriften einen verborgenen Sinn entreißen und einen Weg zu finden, auf dem Gott sie aus der Wüstenei des Todes erretten könne.
Während die »Erlöser« ihre messianische Botschaft verkündeten und die Mystiker die Schriften erforschten, erwuchs im Ghetto noch eine weitere Glaubensbewegung: Die Chassidim, die die
unerträgliche Wirklichkeit durch religiöse Inbrunst zu überwinden suchten.
Die Kabbala, der Chassidismus — Mendel Landau waren sie bekannt, diese Ausgeburten der Verzweiflung. Er wußte auch, daß es aufgeklärtere Zeiten gegeben hatte, in denen das Los der Juden leichter gewesen war. Und er wußte von den vielen Freiheitskriegen der Polen, bei denen die Juden zu den Waffen gegriffen und an der Seite der Polen gekämpft hatten.
Vieles von dem, was Mendel Landau wußte, war alte Geschichte, längst versunkene Vergangenheit. Jetzt aber schrieb man das Jahr 1939, und Polen war eine Republik. Er und seine Familie lebten nicht mehr in einem Ghetto. Es gab in Polen über drei Millionen Juden, und die Juden spielten eine wichtige Rolle im Leben der Nation. Freilich war ihre Unterdrückung mit dem Entstehen der Republik nicht beendet, nur der Grad war ein anderer geworden. Noch immer gab es für die Juden Sondersteuern und wirtschaftliche Beschränkungen. Und noch immer gaben die meisten Polen für eine Überschwemmung oder eine Dürre den Juden die Schuld.
Gewiß, das Ghetto war verschwunden, doch für Mendel Landau war ganz Polen ein Ghetto, ganz gleich, wo er wohnte. Gewiß, Polen war eine Republik, doch Mendel Landau hatte auch in den Jahren nach
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