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Exodus

Exodus

Titel: Exodus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DJ Stalingrad
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nachdenklich. Das, was mir in den letzten Jahren fast die
einzige Freude war, hatte an diesem Tag keine, überhaupt keine
Gefühle hervorgerufen, es war bloß eine routinemäßige
Schlägerei mit wem auch immer. Ich spüre Schwermut. Ich hab
wohl den Faden verloren, jetzt kann man mich angreifen und
aufschlitzen, und ich werde dabei an etwas anderes denken. Ein erstes
Warnzeichen.
    Das
zweite Mal klingelte es ein paar Monate später, als sie mir in
der Elektritschka mit einem Messer den Nacken aufschlitzten und den
ganzen Körper zerstachen. In diesen Sekunden waren die einzigen
Emotionen, an die ich mich erinnern kann – der Wunsch,
wenigstens einem der Wichser ordentlich eine reinzuhauen, und
Schwermut. Vielleicht sinke ich das nächste Mal, wenn so etwas
passiert, nur auf die Knie und preise Jesus. Ich denke, ich sollte
derzeit Zufallsschlägereien meiden, man könnte mich
versehentlich umbringen, wenn ich bloß schwermütig bin und
mit den Gedanken woanders.
    Unmittelbar
vor meiner Ausreise war ich einen Tag zu Besuch in Nishny Nowgorod
und schmiss einen Arsch aus dem Trolleybus, haute ihm eins in seine
verfickte Fresse und merkte nicht, wie er mir dabei mit irgendwas die
Gurgel aufschnitt, ein langer oberflächlicher Schnitt am Hals.
Wieder genäht. In diesem Moment fühlte ich mich okay, aber
natürlich ein bisschen schwermütig. Ich habe jetzt sieben
Schnitt- und Stichwunden. Noch siebzehn, dann sinds vierundzwanzig.
    Verzweifelte
Hausfrauen nehmen sich das Leben, indem sie Rohrreinigungsmittel
trinken, im Japan des Mittelalters schlitzten sich die Samurai den
Bauch auf. Das war ein Ehrentod, mit dem man für geleistete
Verdienste ausgezeichnet wurde. Warum so schmerzhaft und qualvoll?
    Bei
Remarque heißt es an einer Stelle, dass es sich nur dann um Mut
handelt, wenn man sich wehren kann. Wenn man zäh an seiner Waffe
festhält. In einer isländischen Sage bittet ein Wikinger
darum, vor seinem Tod zumindest seinen Speer berühren zu dürfen
– so gehört er zu den im Kampf Gefallenen und kommt nach
Walhalla. Du rennst nicht vor dem Leben weg, rennst nicht vor dem
Bösen weg – du bist bereit, den Tod mit der Waffe in den
Händen zu empfangen. Selbstmörder verdammen sich zu einem
mechanischen Tod wie im Schlachthof. Sie werden von Gift getötet,
das schon geschluckt ist, vom Asphalt, wenn man aus oberen Etagen
fällt, von einer Schlinge, die nicht wieder gelöst werden
kann. So wird die ganze Verantwortung auf die Gravitation geschoben,
die Wirkung von Toxinen oder andere Universalgesetze, deren Opfer du
bist.
    Aber
wenn du die Klappe hältst und dir wieder und wieder ein Messer
in den Bauch rammst, es drehst und wendest und so deine eigenen
Innereien zersäbelst, schiebst du die Verantwortung auf
niemanden. Mit jedem Hieb, jeder Explosion unerträglichen
Schmerzes sagst du: Ich bin es selbst. Ich gebe nicht auf,
kapituliere nicht, ich bin im Krieg und bereit, meinen entscheidenden
Schlag zu tun. Und deine zitternden Finger umklammern den kalten
Stahl.
    Ich
hasse all diese Leute, diese ganze verfickte Generation. Alle, die in
den Neunzigern aufgewachsen sind. Stinkende Wichser. Wisst ihr, alle
unsere Verfahren, auch Fedjas, wurden immer von
fünfundzwanzigjährigen Blutsaugern geführt oder sogar
von noch jüngeren. Von Leuten Jahrgang 88 wurde ich verhört.
In fieser modischer Kleidung, Wichserjäckchen, mit schwulen
Frisuren, sie sahen genau aus wie die, die wir all die Jahre
verkloppt haben. Und die Sätze, die ganze Sprache, blöde
Scherze, Mist aus dem Internet. Sie machten dumme Witze und flirteten
bei den Anhörungen am Tag nach Fedjas Ermordung mit seiner
Freundin Katja. Fuck, in den Ofen mit diesen Rindviechern, in den von
Auschwitz, es ist um keinen schade, die ganze Generation, alle
zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, und mich gleich mit rein,
geht in Ordnung. Die Gierigen, Dummen, Fiesen, Plumpen, Zynischen,
Feigen – ich hoffe, ein dritter Weltkrieg tilgt diese Bastarde
vom Erdboden.
    »Herzlichen
Glückwunsch, Schwein!«, brüllt Kolja und steigt mit
seinen ganzen hundert Kilo auf das Gesicht eines Typen, der auf dem
Asphalt liegt. Dessen Kumpel, so zwanzig Leute, hasten zwanzig Meter
weiter umher und stochern sinnlos mit Messern in der Luft rum. Sie
wollten während unseres Konzerts im Wald ein paar Leute
umbringen, aber irgendwas ist schiefgegangen, und plötzlich kam
aus dem Dickicht ein Haufen Leute mit halben Bäumen,
Wurzelballen und Metallschrott. Nun waren sie selbst die

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