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Exodus

Exodus

Titel: Exodus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DJ Stalingrad
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eigenen
Wohnsitz, ich kann mir vorstellen, wie glücklich er war.
    Dann
gab es ein heftiges Gewitter, und ein Blitz schlug direkt in sein
Häuschen ein, es ging in Flammen auf. Der blinde Willie konnte
nichts tun, er hastete umher, schaffte es auf die Straße, rief
um Hilfe. Doch rundherum lebten nur Weiße, für die ihr
neuer Nachbar kein Mensch war, und so kam niemand, um ihm zu helfen.
Das Haus brannte nieder, und Willie blieb im strömenden Regen
auf den Ascheresten liegen, bekam eine Rippenfellentzündung und
starb einige Tage später.
    Ich
höre seine Lieder oft auf meinem Player. Kürzlich merkte
ich plötzlich bei einem Date, dass ich ständig eine Melodie
vor mich hinsumme. Erstaunlicherweise war es Can’t nobody
hide from God vom blinden Willie.
    Eine
junge alleinerziehende Mutter, eine müde Frau aus einer elenden
Kleinstadt, sagte mir mal: »Alle russischen Männer sind
Scheiße. Sie können nichts, wenn sie nicht saufen, und
wenn sie saufen, können sie nichts.« Sie drehte
unaufhörlich das Rad der Nähmaschine und sah mir traurig in
die Augen.
    Der
Sowjetmensch ist mein Freund. Ich erkenne ihn an den Augen. Er lügt
nicht, spielt nur hilflos mit den Muskeln auf den Wangenknochen. In
engen Wohnungen altert er schweigend und lässt sich einen Bart
wachsen, unter der Woche trinkt er starken Tee, am Wochenende Wodka.
Wenn ich jemanden besuche, schaue ich als erstes die Tapeten an –
wenn sie alt sind, mit Blümchenmuster, mit Wasserflecken und
Blasen, oder Fototapeten, idiotische Kalender, dann bin ich in einem
Haus, in dem man mich versteht. Hier wird ehrlich gelebt, niemandem
geglaubt, auf viele herabgeblickt, endlos Tee getrunken und darauf
gewartet, dass endlich alles vorbei ist. Herzlich willkommen in der
Welt der Verlorenen, Hässlichen, Verschlossenen, Kurzsichtigen.
Hier ist mein Zuhause, ich brauche kein anderes.
    ***

Fedja
erzählte mir von einem seiner ersten Auswärtsspiele mit Spartak . Er war sechzehn und fuhr mit Kumpeln aus dem Bezirk im
Vorortzug nach Jaroslawl. Damals sahen Fans noch nicht aus wie
Schwuchteln, sondern wie es sich gehört: Bomberjacken, schwere
Springerstiefel, Schals. Wenn ich nicht irre, rasierte sich Fedja
damals noch keine Glatze, er hatte auch noch einen pubertären
Oberlippenbart, ich habe Fotos gesehen. Alle kippten sich zu, und am
Ende gingen in der Stadt Alexandrow Hunderte rasende Minderjährige
auf die Straße, begannen alles zu demolieren, was ihnen in den
Weg kam. Sofort kamen Busse der OMON und die
Armee, alle wurden von den Wichsern niedergeknüppelt, einem Teil
der Leute Handschellen angelegt, ungefähr zweihundert Mann
wurden auf den Asphalt gelegt, Hände überm Kopf. Der Rest
kämpfte sich zur Bahnstation vor, aber die Elektritschkas hatten
ihren Betrieb eingestellt, und so wurde entschieden, das
Bahnhofsgebäude zu stürmen. Im Erdgeschoss wurde alles
niedergefickt, zerlegt, man verbarrikadierte sich im Wartesaal im
ersten Stock. Dort standen Metallbänke und -tische, die gleich
zum Einsatz kamen, sie flogen aus den eingeschlagenen Fenstern den
anrückenden Saubullen auf die Schädel. Als es keine Bänke
mehr gab, schauten sich die Jungs um und sahen, dass es im Wartesaal
neben allem anderen auch eine Gaststätte gab. Die Masse
Halbwüchsiger stürmte die Bar, zerschlug die Vitrinen,
griff sich, was ihr unter die Finger kam und trank direkt aus den
Flaschen. Chaos. Fedja springt über den Tresen und schreit die
zu Tode erschrockene Bedienung an: »Hände hoch, das ist
ein Überfall!«
    Fuck,
das ist der hirnrissigste Quatsch, den ein beschissener Jugendlicher
einer Bedienung entgegenschleudern kann, wenn er im ersten Stock
eines Provinzbahnhofs verschanzt ist. Eine Sekunde später
durchbrechen die Bullen, geschützt durch die aufgelesenen Bänke
und Tische, die Absperrungen aus Müll, stürmen den Saal und
schicken alle zur Hölle.
    So
etwas Hirnrissiges hört man selten. Na ja, vielleicht ist auch
das hier ganz cool: Ein Bekannter erzählte, wie er ungefähr
gleichzeitig mit der Randale in Alexandrow und mit etwa denselben
Leuten einen Ausflug nach Prag gemacht hatte. In Prag kippten sie
sich wieder zu und veranstalteten in etwa das gleiche, tja, und die
Reaktion der tschechischen Spezialeinheiten war ebenfalls ganz
normal. Er wusste noch, wie er in einen überfüllten,
vergitterten Polizeilaster verladen wurde, auf dem Boden neben ihm
lag ein betrunkener Skin in Handschellen, der aus voller Kehle
brüllt: »Ich bin ein Russischer Soldat!« Das

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