Exodus
Erstberufenen.
»Weißt
du, Sasch, ich bin irgendwie sehr erschöpft. Alles scheint so
sinnlos, wir machen eine Arbeit, die keiner braucht, keiner braucht
uns, man hält uns alle für Nichtstuer und Schmarotzer. Die
letzten Monate haben mich wirklich sehr erschöpft. Sobald es
wärmer wird, will ich einfach mal Pause machen.«
»Weißt
du, ich rate dir davon ab. Ich hatte viele Freunde mit einem schweren
Schicksal, die sich ebenfalls entschieden hatten, mal Pause zu
machen. Gewöhnlich dauert die Pause nicht lange, schon bald
endet sie im Gefängnis, im Entzug, im Grab. Mach lieber keine
Pause. Weißt du, Leute wie wir dürfen nicht anfangen,
Pause zu machen.«
Anja
erzählte eine Geschichte aus ihrer Kindheit, sie erinnerte sich
sehr gut daran, Bild für Bild. Einmal saßen sie zu Hause,
als vorm Fenster etwas von oben runterfiel. Sie rannten raus auf den
Balkon, um nachzuschauen, und sahen auf dem Asphalt den Körper
des kleinen Jungen aus dem achten Stock, über und über voll
Blut. Er lebte noch, starb aber bald. Wahrscheinlich hatte er auf dem
Balkon gespielt, war abgerutscht und irgendwie runtergefallen.
Der
Rettungswagen kommt, fährt in den Hof , aber von der anderen
Seite, nicht dort, wo der Körper liegt. Sie schauen – auf
dem Gemeinschaftsbalkon im achten Stock steht ein Weib im Hauskittel
und raucht.
»Hey,
hallo! Wir haben uns hier irgendwie verfahren, welche Straße
ist das?«
»Dieunddie.
Wo findet man eigentlich Sanitäter wie euch, die sich im eigenen
Bezirk verirren!«
»Wir
suchen hier ein Haus und können es einfach nicht finden, die
Blöcke sind krumm und schief.«
»In
deiner Hose ist was krumm und schief, unsere Häuser stehen hier
seit zwanzig Jahren, und bisher hat sich niemand beschwert.«
»Nun
gut, wir suchen Haus Nummer soundso, Block soundso.«
»Na,
das ist hier, du Blödi, was wollt ihr denn?«
»Da
kam ein Signal rein, die Nachbarn haben angerufen ... Sie sind doch
da im achten Stock?«
»Jaja,
was ist denn passiert?«
»Ja,
das frage ich Sie. Sie stehen da rum, und Ihre Nachbarn haben uns die
Hölle heiß gemacht.«
»Und
was ist los?«
»Aus
Ihrem Stock ist vom mittleren Balkon gerade ein Baby gefallen.«
Es
stellte sich heraus, dass das die Mutter war, die nicht vor dem Baby
rauchen wollte.
Der
Mensch ist ein Ameisenhaufen. Eine pfiffige Anhäufung
verschiedener Zellen, eine Kolonie, wie ein Korallenriff zum
Beispiel. Sie leben in Symbiose und erfüllen zum gemeinsamen
Wohl, Aufblühen und Vergrößern der Kolonie
unterschiedliche Funktionen. Der Ameisenhaufen wächst, breitet
sich aus, teilt sich, stirbt.
Gibt
man ihm einen Tritt oder durchwühlt man ihn, tut es dem
Ameisenhaufen weh. Zertritt man die Ameisen oder zündet man ihn
an, weint der Ameisenhaufen.
Blind
Willie Johnson ist einer der großen Bluesmänner vom Anfang
des 20. Jahrhunderts. Seine Stimme, krächzend und auf eine
stille Art fanatisch, erfüllt mein Leben mit Sinn.
Johnson
wurde, wie alle Blueslegenden, in eine bettelarme schwarze Familie
geboren. Mit elf Jahren spritzte ihm seine Stiefmutter in einem
Anfall von wahnhafter Grausamkeit kochendes Wasser in die Augen, und
Willie erblindete. Alle seine Verwandten ackerten Tag und Nacht in
den Kohleminen, nur er war zu nichts mehr nutze, und so warf man ihn
zum Betteln raus auf die Straße. Viele Tage und Jahre saß
er in seiner Stadt auf einem Müllhaufen an einer Straßenkreuzung
und klimperte tastend auf den Saiten einer kaputten Gitarre. Er
spielte Slide-Gitarre, drückte die Saiten mit einem
Taschenmesser, und sie gaben zerbrechliche, schmerzlich langgezogene
Töne von sich. Er sang eigene Lieder, die alle von Gott
handelten, ganz simpel, wie Kinderreime, in denen ein und dieselbe
Phrase ständig wiederholt wird. Diese Phrasen dringen ins Herz,
einmal gehört, dann sind sie in dir, und du singst sie
unaufhörlich vor dich hin. Sie enthalten sämtliche Leiden,
Einfachheit, Armut, Größe, Pathos, die dem Christentum
zugrundeliegen, der Idee von Gott überhaupt, es sind
einfache Worte über unser ganzes Leben.
Als
Willie um die dreißig war, entdeckte ihn zufällig ein
großes Tier aus der Musikbranche. Er zog ihn aus dem Müll,
brachte ihn dazu, eine Platte aufzunehmen und sich im Anzug
fotografieren zu lassen. Dieses Foto ist das einzige erhaltene Bild
des blinden Willie. Die Platte war ein Erfolg, einige Zeit später
machte der Produzent Willie ein riesiges Geschenk – er kaufte
ihm ein Haus. Zum ersten Mal im Leben hatte Willie einen
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