Exodus
grünes Land, aber guck, sie sind alle
gleich hoch, das sind Anpflanzungen, überall Anpflanzungen. Um
einen echten Wald zu sehen, fahren wir nach Russland.
Vor
elf Jahren war ich das erste Mal in Moskau, wir haben bei Rostow ein
großes Umweltcamp gegen den Bau des Containerzentrums einer
Fabrik organisiert. Leute aus ganz Russland waren da, schliefen in
Zelten, soffen, was das Zeug hielt, sangen Lieder. Dann stellten sie
große Betonblöcke auf die Straße, auf der die
Bauarbeiter jeden Morgen zur Baustelle kamen und ketteten sich mit
Handschellen dran. Das ist eine in Europa übliche Protestpraxis.
Morgens sahen die Arbeiter das und schlugen alle, die da waren, zu
Klump, warfen die Zelte auf einen Haufen und zündeten sie an.
Ich stehe mitten in dem Scheiß, alles brennt, die Leute wälzen
sich im Dreck, und ich denke: Aus, Schluss. In Europa ist das
undenkbar. Doch am nächsten Morgen tranken die Russen immer
noch, hatten sich neue Hütten gebaut, Wodka gekauft, und das
Camp ging weiter, als wäre nichts gewesen. Da wurde mir
irgendwie klar, dass Russen echt glamouröser sind ...«
Wir
kommen an, ich übernachte bei einem anderen Bekannten, checke
meine Mails – gestern haben irgendwelche Wichser bei einem
riesigen Konzert in Piter eine Nagelbombe gelegt, die wie durch ein
Wunder nicht gezündet hat. Es waren mehr als 600 Menschen dort,
die Tasche mit der Bombe mitten im Gewühl. All diese Mädels
und Jungs ... furchtbar.
Morgens
vor der Abfahrt noch ein Streifzug durch die Geschäfte, Essen
und schicke Klamotten verschwinden in meiner Tasche. Mittags setze
ich mich in einen Reisebus mit fliegenden Händlern, überall
riecht es nach geräuchertem Fisch und Putzmitteln. Einige
Stunden später drückt mir ein Grenzer einen Stempel in den
Pass – ich bin wieder in der Heimat. Dreckiger Schnee, Soldaten
in Wattejacken, Schäferhunde ... Ich komme nach Piter, das
restliche Geld reicht gerade für ein Ticket nach Moskau. Abends
bei einer Freundin, dann Nachtzug, ich ernähre mich
ausschließlich von Diebesgut. Am nächsten Tag schon in
Moskau, auf dem Bahnsteig stehen Bullen und schicken alle jungen
Leute zur Leibesvisitation. Herzlich Willkommen. Ich verbringe zwei
Stunden auf der Wache. Als ich an der Reihe bin, beginnt die
Mittagspause, man entlässt uns ohne Kontrolle. Ich bin
froh, im Rucksack hätten sie statt Pillen einen Patronengürtel
gefunden, einen Vibrator und sechs Kilo Vinylplatten mit Eingeweiden
auf dem Cover.
Ich
habe Zeit verloren, schaffe es nicht mehr nach Hause, fahre gleich
zum Klub. Heute ist die Release-Party einer befreundeten Band, alle
sind schon da. Die Show beginnt, durchgedrehte Typen springen aus dem
ersten Stock in die Menge, drängen sich nach vorn. Wowa tritt
heute im Trainingsanzug auf, die Menge stürmt die Bühne,
immer wieder greifen sie nach seinem Mikro. »Wir schlagen den
Wichsern die Fressen zu Klump.«
Mich
beschäftigen echte Überlebensfragen, ich habe schon auf
einem Tisch die Platten ausgebreitet, die ich gerade aus dem Ausland
mitgebracht habe. Nach einer halben Stunde habe ich genug Geld, um
meine Ausgaben der nächsten Tage zu decken. Ich gebe Freunden
meine Sachen zur Aufbewahrung und ziehe mich auf der Toilette um.
Draußen warten schon die drei, die heute mit mir nach Kiew
fahren, der Zug fährt in einer Stunde. Wir winken ein Auto ran,
kaufen uns an Buden was zu Essen, fahren los.
Bei
Tagesanbruch sind wir schon in der Ukraine. Die Stimmung ist geil,
wir hören auf MP3 Lieder von Michail Bojarski , laufen über den Chreschtschatyk, essen für ein
paar Groschen in irgendwelchen Kantinen. Übernachten bei
Freundinnen in einer Vorstadt, morgens kommen die anderen, Alk-Trash,
Krawall, jetzt können alle Bojarski schon auswendig. Am Abend
sind alle druff, wir treffen uns mit Einheimischen am Stadtrand, alle
sind voll, besoffen. »Vorwärts, Husaren – fickt und
schlachtet!«, brüllt ein durchgedrehter Typ und reihert
dabei auf seine 1000-Dollar-Jacke. Alle werden in Busse verfrachtet,
wir fahren Richtung Westen. Gegen fünf Uhr morgens, bei
Sonnenaufgang, halten wir an der Grenze des Gebiets und laufen durch
Dörfer und Gehöfte zur Bahnstation. Leichter Frost hat
eingesetzt, überall krähen die Hähne, die Hütten
sind noch nicht erwacht.
Wir
setzen uns alle in die erste Elektritschka und fahren damit in die
Stadt. Ein sonniger Tag, durch die verwinkelten
Kopfsteinpflastersträßchen zu spazieren, ist einfach
klasse. Wir okkupieren ein kleines Café
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