Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
aber jedweder Fracht und dem Verkehr auf dem stillen Nil meisterhaft angepaßt. Einige hundert Meter von dem Zelt entfernt, in dem ich lag, setzte mein ägyptischer Freund Ahmed Josef am Fuße der Cheopspyramide eines der prachtvollen Holzboote des Pharao Cheops zusammen. Kürzlich hatten die Archäologen an jeder Seite der Cheopspyramide ein großes, vergrabenes Schiff entdeckt. Im ganzen lagen dort vier Schiffe in tiefen, luftdichten, mit riesigen Steinplatten hermetisch abgedeckten Kammern. Bisher war nur ein Grab geöffnet worden. Darin befanden sich Hunderte von dicken Plankenstücken aus Zedernholz, die noch ebenso gut erhalten waren wie an dem Tag vor rund 4600 Jahren - etwa 2700 v. Chr. -, als sie eingegraben wurden. Jetzt stand dort der ägyptische Chefkonservator, voller Lachfalten, bärtig, und zog neue Taue in die aber Tausende von kleinen Löchern, mit Hilfe derer das Schiff einst von Hanfseilen zusammengehalten wurde. Das Ergebnis war ein kräftiges, 43 m langes Schiff, so stromlinienförmig und elegant geschwungen, wie es die Wikinger nicht schöner und größer gebaut hatten, als sie einige Jahrtausende danach begannen, die Nordsee, den Atlantik und das Mittelmeer zu durchpflügen. Es gab nur einen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Schiffstypen: Die Wikingerschiffe wurden gebaut, um einen harten Kampf gegen die Meereswellen zu bestehen, das Cheopsschiff, um auf dem stillen Nil großes Gepränge zu entfalten. Die Abnutzung des Holzwerks, dort, wo die Taue einst ihre Spuren eingegraben hatten, zeigte, daß es fleißig benutzt wurde und nicht nur ein sogenanntes »Sonnenschiff« für die letzte Reise des Pharaos war. Aber so, wie der Rumpf gebaut war, mußte er bei der ersten Begegnung mit hohen Wellen zusammenbrechen. Das war wirklich sonderbar. Denn die eigenartigen und vollkommenen Linien des Schiffes hatten nichts mit einem Flußboot gemein. Der vollendet geschwungene Rumpf ragte im Bug und Achtersteven hoch in den Himmel. Er besaß alle charakteristischen Züge von seetüchtigen Fahrzeugen, die extra angefertigt werden, um über Brandung und turmhohe Wellen zu reiten. Das gab zu denken. Ein Pharao, der vor fast fünftausend Jahren am stillen Ufer des Nils lebte, hatte ein Boot gebaut, das in der Praxis nur den friedlichen Fluß wellen widerstehen konnte. Dennoch hatte er dem Boot architektonische Linien verliehen, um die ihn die führenden Seefahrernationen der Welt beneiden konnten. Er hatte sein zerbrechliches Flußboot nach einem Modell gebaut, das von den Schiffbauern einer Nation mit langer, solider Seefahrttradition auf dem offenen Meer geschaffen war.
Jetzt konnte ich anfangen, zu raten. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder war diese seetüchtige Stromlinienform von ägyptischen Seefahrern derselben genialen Generation entworfen worden, die bereits die Schrift, den Pyramidenbau, Mumien, Gehirnoperationen und die Astronomie erfunden hatte - oder die Schiffbauer des Pharao waren im Ausland in die Schule gegangen. Gewisse Punkte deuten auf das letztere hin. In Ägypten wachsen keine Zedern, das Material für das Cheopsschiff hatte man aus den Zedernhainen des Libanon geholt. Im Libanon aber wohnten die Phönizier, erfahrene Schiffbauer, die mit ihren Schiffen das ganze Mittelmeer durchpflügten. Ihr wichtigster Hafen, Byblos, die älteste bekannte Stadt der Welt, importierte Papyrus aus Ägypten, denn Byblos war im Altertum ein Zentrum der Buchproduktion. Daher der Name Byblos oder Bibel, der Buch bedeutet. Damals bestanden zwischen Ägypten und Byblos lebhafte Handelsbeziehungen. Also hätten die Schiffbauer des Pharao Cheops hier ihre eigenartige Bootsform kopieren können. Vielleicht.
Leider wissen wir nur wenig oder gar nichts darüber, wie die Schiffe der Phönizier aussahen. Mit Sicherheit können wir nur sagen, daß sie kaum in Papyriform, nach dem Modell eines Papyrusbootes, gebaut waren, weil sie Papyrus aus Ägypten herantransportieren mußten, das nicht im Libanon wuchs. Und hier wird es problematisch. Das Schiff des Pharao Cheops hatte die Papyriform, alle anderen großen, abgebildeten Holzschiffe der Pharaonenzeit ebenfalls; und alle hatten das Papyrusboot zum direkten Vorbild. Und hier sind wir beim Kern des Problems. Das Papyrusschiff war das Vorbild des Cheopsschiffes. Und eben dieses Vorbild aus Papyrus besaß alle charakteristischen Eigenschaften der Seefahrzeuge, Bug und Achtersteven schwangen sich höher hinauf als bei Wikingerschiffen, um Sturzseen und hohe
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