Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
Webstühle wurden fleißig benutzt, und die Spanier bekamen Bildwirkereien und künstlerische Umhänge zu sehen, die in technischer Fertigkeit und Komposition alles übertrafen, was sie in ihrer Heimat gesehen hatten. Berufsmäßige Töpfer stellten Vasen und Schüsseln, Töpfe und Krüge und Keramikmodelle von Menschen und Tieren und allen Situationen des Lebens mit einem Sachverstand her, der allem, was die klassischen Kulturen der Alten Welt hervorbringen konnten, in nichts nachstand. Und Gold- und Silberarbeiten der ansässigen Juweliere waren in technischer wie in künstlerischer Hinsicht so hoch entwickelt, daß die Spanier zum Schwert griffen, weil sie in der Begeisterung über ihre »Entdeckung« sowohl die Fassung als auch das Gewissen verloren. Gigantische stufenförmige Pyramiden, Säulentempel und Monolithe von Priesterkönigen in Überlebensgröße überragten die Adobedächer; gepflasterte Wege, komplizierte Aquädukte und Brücken prägten die Landschaft. Fast endlose künstlich bewässerte Terrassenfelder trugen verschiedenartige Hackfrüchte, reichlich einheimische Kornsorten, Gemüse, Früchte, Heil- und andere Kulturpflanzen und wilde, veredelte Baumwollsträucher, die in großen Mengen gezogen wurden. Sowohl Wolle als Baumwolle wurden gesponnen, gefärbt und gewebt, und das mit Fäden, die in der Masche oft dünner und feiner waren als europäische Gewebe vor dem 20. Jahrhundert.
Wer hatte wen entdeckt? Die Menschen auf den Booten die Landbewohner - oder die Menschen an Land jene auf den Booten?
Der Priesterkönig - der von seinen Vorvätern gelernt hatte, er stamme über die weißen, bärtigen Männer von der Sonne ab - zog in einer Sänfte mit Fächer und Sonnenschirm heran. Seine Musiker spielten Flöten und Trompeten, schlugen die Trommeln und rasselten mit Silberschellen. Er kam mit seiner Leibgarde und einem stehenden bewaffneten Heer von vielen tausend Mann. Seine Späher hatten eine Handvoll Spanier entdeckt, die an der Küste das Land betraten und sich auf die Wanderung in das Innere des Landes, in die Hauptstadt machten. Es geschah genau das gleiche mit dem mächtigen Aztekenreich in Mexiko wie mit dem gigantischen Imperium der Inka in Südamerika. Eine Handvoll Spanier mit weißer Haut und Bärten eroberte die enormen Imperien, sozusagen ohne einen Schuß abzufeuern. Weil die Schriftgelehrten und die Priesterschaft dort, wo die Spanier hinkamen, Hieroglyphen-Aufzeichnungen und religiöse Überlieferungen besaßen, die besagten, weiße, bärtige Männer hätten ihren Vorvätern die Segnungen der Kultur gebracht und seien dann mit ihren Gelehrten und mit dem Gelöbnis wiederzukommen weiter in unbekannte Gegenden gezogen. Den Indianern fehlte der Bartwuchs vollständig. Das war eine Eigenart des gelbbraunen Menschentyps, der im Norden hereingesickert war. Aber die Spanier kamen mit Bärten und weißer Haut, als sie von den Indianern an Land entdeckt und zu ihrer Rückkehr nach Mexiko und Peru von den mächtigsten Alleinherrschern dieser Zeit willkommen geheißen wurden.
Der übrigen Welt war nur ein kurzer Blick auf die Hochkulturen der Neuen Welt vergönnt, die einst wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht waren, angefangen vom Reich der Azteken und Maya im Norden bis zum Inkareich im Süden.
Merkwürdigerweise hatten sie sich niemals außerhalb der tropischen Wendekreise bis zu den Teilen Amerikas ausgebreitet, in denen heute das Klima so anregend ist, daß die Menschen dort zu den unternehmungslustigsten und arbeitsamsten gehören. Jener Vorhang, den Christoph Kolumbus für seine Zeit einen kurzen Moment hob, wurde von seinen Nachfolgern rasch wieder heruntergelassen. Nur einige Jahrzehnte vergingen, bis Amerikas Kulturzentren in Trümmer fielen, zu funktionieren aufhörten und, teils ausgelöscht und teils vermischt, neue Formen annahmen. Wir Europäer hingegen glauben, uns um das »Kulturelle« verdient gemacht zu haben, während wir eventuelle exotische Schattenseiten als Erbe der Zeit vor Kolumbus betrachten. Den Eindruck haben wir erhalten, weil es die goldgierigen Konquistadoren mit dem Kreuz als Alibi eilig hatten, den Vorhang herunterzulassen, ehe jemand richtig begriff, was sie auf der anderen Seite der Erdkugel gefunden hatten.
Was war wirklich in Mexiko und Peru geschehen, ehe Kolumbus in Amerika auftauchte? Hatte der unwissende Steinzeitmann aus der arktischen Tundra eigenhändig und selbständig den Keim für all das gelegt, was die Spanier vorfanden? Oder hatten
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