Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
wirkte sich das Ende des hinunterhängenden Gleitklotzes so störend auf den Kurs aus, daß Georges mit Brille tauchen und den dicken Klotz unter Wasser absägen mußte. Während drei von uns in der Dämmerung halb über Bord hingen, tauchte ein Dutzend schwarzweißgefleckter Delphine auf und spielte so dicht neben uns an der Papyrusrolle, an der wir hingen, daß wir sie anfassen konnten. Sie tummelten sich dicht an den Schilfbündeln, rollten geschmeidig, fast geräuschlos umher, als wären sie Seifenblasen und nicht hundert Kilo schwere Muskelbündel. Als Georges außenbords war und die Dünung Abdullah und mir bis zu den Hüften stieg, erlebten wir den Wal in seinem Element. Er tat uns nichts, und wir ließen ihn friedlich in unserem gemeinsamen Badewasser spielen. An dem Tag entdeckten wir zum ersten Mal, daß die Wellen, die gegen die Hüttenwand schlugen, über den Boden der Hütte weiter eindrangen. Der Boden der Funkkiste war klitschnaß. Allmählich fiel der Hüttenboden so schräg nach Steuerbord ab, daß einige von uns versuchten, ihre Matratzen quer zu legen.
Am 2j.Juni herrschte eine merkwürdige Atmosphäre. Es wechselte mehrmals zwischen kalter und tropisch warmer Luft. Ein paarmal erlebten wir eine Hitzewelle; es roch nach trockenem Sand, wie ich es von der Sahara kannte. Man hätte glauben können, wir würden uns direkt vor einer Wüstenküste abquälen. In jener Nacht war das Meer noch schlimmer als in der vorigen. Wir mußten alles Bewegliche noch weiter nach vorn stellen. Sämtliche Kisten, auf denen wir in der Hütte schliefen, wurden vom Wasser umspült, wenn sich die Ra auch wie nie zuvor über das Wellenchaos stürzte. Sie ritt wie ein Zauberteppich.
Dann kamen wir endlich in ruhiges Wetter mit einer frischen Brise, rollender Dünung und Sonne. Der Passatwind blies gleichmäßig aus Ost und Nordost, und die Elemente benahmen sich etwa so, wie es in diesen Breitengraden zu erwarten war. Als das Wetter umschlug, kam uns der erste patrouillierende Hai entgegen; plötzlich strich er so dicht an Georges vorbei, daß er seine Beine an Bord ziehen mußte - aber der Hai glitt nur weiter und verschwand im Kielwasser.
Der 28. Juni war einer der herrlichsten Tage auf der Ra , und jeder ging friedlich seiner Beschäftigung nach. Georges saß mit Abdullah in der Türöffnung und brachte ihm Arabisch bei. Andere beschäftigten sich mit Angelrute oder Tagebuch. Dann hörten wir ein herzzerreißendes Brüllen. Das war der ruhige Norman! Er hing auf dem Vorderdeck außenbords, um seine ewige Erdleitung zu befestigen, aber jetzt hing er dort wie gelähmt, mit verzerrtem Gesicht, und kam mit dem Unterkörper nicht an Bord. Alle dachten an das Schlimmste: Haie. Wir zogen ihn an Bord. Die Beine fehlten nicht, aber dort hing das Biest. Sein Unterkörper war in die glänzenden hellroten Nesselfäden einer großen portugiesischen Nesselqualle eingewickelt. Als Norman in die Hütte gebracht wurde und Herztabletten bekam, war er im Koma.
»Ammoniak«, stieß Juri hervor. »Wir brauchen Ammoniak! Nur das hilft, die ätzende Säure zu neutralisieren, die jetzt in den Körper dringt. Urin ist voll Ammoniak, Männer - das ist mein Ernst.«
Zwei Stunden lang rieb Juri Norman mit einem Lappen ein, der in eine Kokosnußschale voller Urin getaucht war, während der Patient sich in Krämpfen wand, bis er bewußtlos wurde und einschlief. Beine und Unterkörper waren von Brandflecken wie von Peitschenhieben bedeckt. Als Norman erwachte und von seinen Beinen auf die unschuldigen Schaumblasen blickte, die täglich auf der glatten Dünung schwammen, rief er wie betrunken: »Seht, jetzt ist das ganze Meer um uns herum voller kleiner Nesselquallen!« Er beruhigte sich bei einer Tasse warmer Suppe aus getrockneten Früchten. Am nächsten Tag war er immer noch verdrießlich und brüllte mit Georges herum, auf den er es plötzlich abgesehen hatte. Aber ehe es Abend wurde, hatten sich die beiden die Hand gereicht und sangen zusammen Cowboysongs.
Am 30. Juni trieben wir wieder in einem Teil des Weltmeeres, der voller Ölklumpen war. Von morgens bis abends fuhren wir mit ihnen um die Wette. Dann tauchte weit hinter uns im Kielwasser ein prachtvoller Vollmond auf. Eine unvergeßliche Nacht mit Mondschein auf gelbem Papyrus und burgunderfarbenem Segel. Allmählich verblaßten die Sterne am östlichen Horizont, wir hatten nicht mehr Mai und auch nicht Juni; jetzt begann der Juli, und wir transportierten immer noch tonnenweise
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