Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
da bekommt man die Antwort auf eine unwissenschaftliche Weise serviert.«
Das wußten Santiago und ich zur Genüge. Ich war frei von Verpflichtungen und konnte darüber lächeln, aber Santiago hatte es große Mühe gekostet, von der Universität Urlaub zu bekommen, um an einer so unwissenschaftlichen Unternehmung wie der Fahrt auf einem Schilfboot teilzunehmen. Papyrus läßt sich in der Badewanne testen. Wissenschaftler arbeiten in Bibliotheken, in Museen, in Laboratorien. Sie spielen nicht Wilde auf dem Atlantik.
Nun schaukelten wir auf dem Meer, bärtig und mit sonnengebräunter Nase, und bekamen eine ganz andere Antwort, als alle Lehrbücher nahelegten. Wir erzielten ein anderes Resultat als der Spezialist, der einen Papyrusstengel in ein Wassergefäß gelegt hatte. Wenn man ein Stück Balsaholz im Laboratorium testet, dann sinkt es nach ein oder zwei Wochen. Aber verwendet man, wie die Indianer, frischgeschlagene Stämme und läßt sie noch voller Saft ins Meer, dann schwimmt man allen Voraussagen zum Trotz 101 Tage auf Balsaholz und landet in Polynesien. Nun hatten die Papyrusexperten lose Papyrusstengel in stehendes Wasser gelegt, und diese verloren rasch ihre Tragfähigkeit; von dem Pflanzengewebe begannen auch Blasen aufzusteigen, es verfaulte. Zwei Wochen sind das Maximum, lautete das Fazit. Nun waren sieben Wochen vergangen. Genau dieselbe Schilfsorte, die im Laboratorium sank, trug uns jetzt zusammen mit vielen Tonnen Ladung. Warum? Weil die Spezialisten in einer Badewanne mit dem Schilf experimentierten, während die Seefahrer des Altertums mit fertigen Schilfbooten auf dem salzigen Meer kreuzten. Die Erfahrung hatte den Schilfbootbauern von Ägypten bis Peru gezeigt, daß das Schilf durch die abgeschnittene poröse Endfläche Wasser saugt und nicht durch die dichte Faserhaut um den Stengel. Deswegen verwendeten sie eine spezielle Technik beim Bau ihrer Schilfboote. Die Endstücke sämtlicher Binsen wurden zusammengepreßt, daß sie kaum Wasser einließen. Wie sich herausstellte, waren Papyrus und Papyrusboot zwei verschiedene Dinge.
»Solange die Taue halten«, sagte Abdullah jeden Tag, so lange schwimmen wir. Erschlaffen die Taue, saugt der Papyrus Wasser. Gehen die Taue ab, fallen wir durch das Schilf.«
Ehe zwei Monate vergangen waren, hatten wir uns schon so an unsere Umgebung gewöhnt, daß es uns oft erschien, als wären wir Zeitgenossen derer, die das Papyrusboot geschaffen und es wie wir mit Krügen und Körben und Taurollen und Fellen, Salz und getrockneter Nahrung, Nüssen und Honig beladen hatten. Unsere wechselnden Stimmungen mußten auch die Seefahrer des Altertums und des Mittelalters vor uns erlebt haben, nichts war neu, nichts wirkte fremdartig. Gemeinsame Probleme, gemeinsame Freuden - Himmel und Meer waren zeitlos. Fern der Gegenwart saßen wir auf unseren Schilfbündeln, keiner von uns war noch Wissenschaftler, wir waren alle Statisten in einem wissenschaftlichen Experiment, das, einmal in Gang gesetzt, von allein ablief. Allmählich rückten uns unsere Ahnen näher auf den Leib, fehlten der Zeit die Dimensionen, wurden die vergangenen Jahrhunderte kurz, das Zeitbild verzerrt. Die Wikinger befanden sich direkt hinter dem Horizont oben im Nordatlantik, Kolumbus stampfte im Kielwasser. Bald waren die Pyramidenbauer Georges' Großeltern geworden, jedenfalls wurde er auf seine ägyptischen Ahnen, die er früher als Erfindungen der Schulbücher betrachtet hatte, immer stolzer.
»Wenn der Achtersteven hält, fahre ich durch den Panamakanal und über den Pazifik«, fabulierte Georges gewöhnlich. »Wenn es diesmal nicht klappt, baue ich ein neues und fahre noch einmal. Sicher haben meine Vorfahren als erste den Atlantik überquert, zumindest in einer Richtung.«
»Das ist gar nicht so sicher«, argumentierten Santiago und ich zu Georges' großer Verwunderung. »Sicher ist, daß sie es bei einem Versuch geschafft hätten. Das Papyrusboot bietet größere Möglichkeiten für die Seeschiffahrt, als man geglaubt hatte. Aber es gab nicht nur in Ägypten Papyrusboote, es gab sie überall in dem uralten Kulturgebiet von Mesopotamien bis zur Atlantikküste Marokkos.«
»Warum haben wir dann nach ägyptischen Grabmalereien gebaut, wenn wir es nicht den Ägyptern nachmachen wollten?«
»Weil es nur in Ägypten Bilder aus dem Altertum gibt, die uns alle Details zeigen. Wir verdanken es der Religion der Pharaonen und dem Wüstenklima, daß wir so vieles über das tägliche Leben in Ägypten vor
Weitere Kostenlose Bücher