Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
Nutzlast.
Am 1. Juli tauchte am nordwestlichen Horizont ein Schiff mit vielen Masten und Ladebäumen auf und fuhr mit Kurs nach Südost ganz dicht an uns vorbei. Wir kreuzten gerade die Schiffsroute zwischen den USA und Südafrika. Alle standen auf der Brücke, dem Hüttendach und der Mastleiter, um diesen Boten des zwanzigsten Jahrhunderts zu sehen, bis die letzte Mastspitze hinter dem Horizont verschwand. Dann waren wir wieder mit den Wellen allein, einsamer als zuvor. Georges blieb auf der Brücke und summte melancholisch vor sich hin. Dann stieß er ein Gebrüll aus. »Sie kommen zurück!«
Und tatsächlich: Am Horizont erschien das eben verschwundene Schiff wieder und steuerte nun direkt auf uns zu. Die Leute an Bord mußten darüber geredet haben, welchem merkwürdigen Ding sie da begegnet waren, und nun hatte der Kapitän beschlossen, deswegen umzukehren. Das Schiff fuhr mit mächtigem Getöse direkt auf die Ra zu. African Neptune, New York , stand am Bug, als es beidrehte, sich neben die Ra legte und sich alle Decks mit winkenden Menschen füllten.
»Können wir euch helfen?« brüllte Norman seinen Landsleuten in ausgelassener Lebensfreude zu.
»Nein, danke - aber vielleicht können wir euch mit irgend etwas aushelfen«, erklang ein Megaphon von der Kommandobrücke.
»Obst!« riefen wir in allen Sprachen von der Ra .
Währenddessen fuhr die Ra immer weiter geradeaus und war auf dem Weg, die Papyrusspitze direkt in den Eisenrumpf zu rennen, da erschreckten unser wildes Gebrüll und unsere heftigen Gebärden den Ozeandampfer; er warf die Schraube an und dampfte eilig davon. Es war nicht leicht, einem solch unberechenbaren Wildfang etwas zu übergeben. Neptuns Namensvetter drehte eine große Runde um den kleinen Namensvetter des Sonnengottes, und als er unsere Fahrtrichtung kreuzte, wurde ein Sack an einer orangefarbenen Schwimmweste in die See geworfen. Der Sack wirbelte im schäumenden Kielwasser des Riesen davon. Georges hatte schon seinen Taucheranzug gegen die portugiesischen Nesselquallen angelegt und sprang, ein langes Tau um den Leib, ins Wasser. Als wir ihn hereinzogen, hatte er reiche Beute gemacht: 39 Apfelsinen, 37 Äpfel, 3 Zitronen, 4 Pampelmusen und eine nasse Rolle amerikanischer Illustrierter. Wir winkten und brüllten unseren Dank hinüber. Plötzlich war das Vorderdeck in einen farbenfrohen Weihnachtstisch verwandelt. Frisches Obst und Obstsalat in einer Salzwasserwüste. Die Kerngehäuse für Safî, die Kerne für Sindbad.
Diese Tage zählten zu den schönsten auf der Ra . Abdullahs Papyrusbollwerk und Carlos Dschungel aus Strecktauen überall an Hütte und Achtersteven hatten uns gleichsam ein wenig an den Haaren herausgezogen. Von dem schlingernden Ozeandampfer aus betrachtet, wirkten wir bestimmt ganz ansehnlich. Wir an Bord des Schilfboots waren alle gleichermaßen von der unglaublichen Stärke und Tragfähigkeit des Papyrus beeindruckt. Papierboot? Vielleicht. Aber nur die Baumstämme brachen. Der Papyrus hatte sich als vorzügliches Material erwiesen. Im Salzwasser zeigte sich, daß seine Stärke von den Theoretikern, ob sie nun Anthropologen oder Papyrusexperten waren, völlig falsch eingeschätzt wurde. Ebenso falsch war es, zu glauben - was auch wir geglaubt hatten -, die Papyrusboote des Altertums, wie sie in Ägypten an die Wände gemalt wurden, seien primitive Fahrzeuge gewesen. Das einzige, was ein ägyptisches Papyrusschiff mit einem Floß gemeinsam hatte, war, daß beide schwammen, selbst wenn man in den Boden ein Loch bohrte. Sowohl die Ra als auch die Kon-Tiki waren Floßschiffe, weil ihnen der Rumpf fehlte. Aber wenn man das Schilfboot Ra mit dem Holzfloß Kon-Tiki verglich, konnte man genausogut ein Auto mit einem Karren vergleichen. Ein Karren kann selbst von einem Pferd in Bewegung gesetzt werden, aber ein Auto erfordert Fahrlehrer und Führerschein. Wir hatten das nicht. Wir waren mit einem sinnreichen ägyptischen Fuhrwerk gestartet, ohne seine Problematik zu kennen. Das Boot bestand aus erstklassigem Material, aber wenn man nicht alle seine Geheimnisse kannte, konnte man leicht einen wichtigen Teil zerstören, ehe man durch Experimentieren entdeckte, wozu die Teile dienten und wie sie benutzt werden mußten. Wir lernten ständig aus unseren Fehlern und aus dem, was wir richtig machten.
Am 4. Juli rüttelte mich Georges mit bekümmertem Gesicht wach. Er meinte, an mehreren Stellen am Horizont Windhosen zu sehen. Schwarze Bänder zwischen Himmel und Meer sahen
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