Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
bei Sonnenaufgang furchterregend aus, aber es waren nur vereinzelte Regenschauer. Bald prasselte es auf Schilf deck und Bambusdach. Der ungewohnte Trommellaut weckte die Männer, und alle wuschen sich in der Morgendämmerung das Salz aus dem Haar und vom Körper. Wir hatten noch so viel Wasser in den Krügen, daß wir nichts aufzufangen brauchten. Die Regenschauer kehrten immer wieder, den ganzen Tag, den nächsten und den übernächsten. Der Regen glättete die Wellen und machte sie flacher als je zuvor, aber das Schilfboot wurde schwer und durch und durch naß. Der Passatwind flaute ab und wehte nur gelegentlich träge, mit Drapierungen aus Regenwolken. Die Ra schlich wie auf Zehenspitzen, mit Mühe und Not ging es vorwärts. War es die Stille vor dem Sturm?
Wir konnten oft baden und uns aus der Fischperspektive über die schwellenden, starken und zähen Papyrusbündel freuen. Daß wir wieder an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zwischen Hunderttausenden von kleinen schwarzen Klumpen trieben, die wie wir auf dem Weg nach Amerika waren, minderte die Freude. Wir fuhren schneller, denn sie folgten nur der Strömung. Mitten im Weltmeer des Kolumbus schwammen wir zwischen ihnen und bekamen schwarze Hände, wenn wir sie anfaßten. Auf einigen saßen kleine Muscheln. Auf dem Bauch der Ra hatten sich Hunderte von langhalsigen Entenmuscheln und eine kleine, schreckhafte Krabbe angesiedelt. Ab und zu sahen wir große Scharen fliegender Fische, die wie Heringe vor uns herschwammen. Sie waren ängstlich, aber unsere kleinen Lotsenfische und Pampano , diese gefleckt und jene gestreift, wurden so aufdringlich, daß sie uns zwickten und in den Sack mit dem Trok-kenfisch Löcher bissen, wenn Carlo ihn zum Weichen über Bord hing.
Am 5. Juli sah der Ägypter Georges zum ersten Mal in seinem Leben einen Regenbogen. Der Sonnenuntergang an diesem Tag war mindestens ebenso farbenprächtig. Farbe, die für hundert Regenbogen ausgereicht hätte, wurde mit einem unsichtbaren Pinsel in unserer Fahrtrichtung auf das Himmelsgewölbe gemalt. Norman saß gekrümmt in der Hütte und arbeitete mit Karte und Lineal an einer Tischplatte, die an der Korbwand hing. Wir anderen lagen auf unseren trockenen Heumatratzen und warteten auf das Resultat. Durch die Ritzen der Vorderwand sahen wir das Farbenspiel des Sonnenunterganges erlöschen, und Carlo zündete die Paraffinlampe an, die dann über die Mastleiter verschwand.
»Jetzt sind wir 4 009 Kilometer gefahren«, kam es endlich von Norman. »Damit haben wir weit über die Hälfte geschafft. Jetzt beträgt der Abstand zu den Westindischen Inseln nämlich genau 2425 Kilometer, das heißt, er ist viel kürzer als die Strecke bis zurück nach Safî.«
»Der Steert bremst, sonst wären wir noch schneller gefahren«, sagte Juri. »Gestern sind wir nur auf 77 Kilometer gekommen.«
»Der Steert bremst, aber schlimmer ist, daß wir dadurch im Zickzack fahren. Heute sind wir die ganze Zeit 30 Grad nördlich und südlich um den Hauptkurs gependelt, obwohl alle Mann nacheinander am Steuerruder gestanden haben. 60 Grad im Zickzack, das bedeutet viele Seemeilen zusätzlich. Ich rechne nur mit dem kürzesten Abstand zwischen den Mittagspositionen«, sagte Norman. »Wären wir wegen dem Steert nicht so mächtig im Zickzack gefahren, dann könnten wir um diese Zeit schon am Ziel sein.«
»Die Alten, die alle Tricks des Papyrusbootes kannten, wären schon längst drüben gewesen«, sagte Georges.
Es knarrte friedlich im Papyrus und plätscherte leise hinter dem Kopfende, als würde jemand hinter einem Wandschirm in die Badewanne steigen.
»Ich habe gedacht, das Meer sei schlimmer, je weiter man hinaus kommt-aber es ist ja umgekehrt«, lachte Santiago. »Unter Anthropologen glaubt man gewöhnlich, die primitiven Seefahrer hätten überall hinfahren können, solange sie sich dicht an der Küste hielten; aber gerade dort ist es ja am schlimmsten!«
»An Küsten und um Inseln werden Wellen und Strömung zu allerlei Wirbeln und Rückströmungen zusammengedrängt. In Landnähe läuft die See viel leichter Amok als auf dem offenen Meer, wo sich die Wellen lang ausstrecken können. Selbst ein Sturm ist an der Küste gefährlicher.«
»Der Fehler liegt darin, daß Anthropologen und andere Wissenschaftler hin und her diskutieren, ob Schilfboote und Flöße ein Weltmeer überqueren können oder nicht; zu einer Einigung kommen sie nie. Aber wenn jemand versucht, es in der Praxis herauszufinden, sind alle entrüstet, denn
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