Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
AM TITICACASEE in Bolivien und Peru werden heute die besten Schilfboote der Welt gebaut. Große Schiffe aus Schilf befuhren früher das Meer vor dem Inkareich .
Auf einmal öffnete sich der Kakteenwald und machte niedrigen, immergrünen Staudengewächsen Platz, und direkt vor uns lag das Meer mit kleinen plätschernden Wellen und einem offenen, unberührten Strand. Fünf langgestreckte, schwarze Walrücken sausten an der Wasseroberfläche genau auf uns zu, und als sie tauchten und verschwanden, stieg ein ganzer Regen glänzender kleiner Fische vor ihnen herauf und schoß wie eine Fontäne aus dem Wasser dem Ufer zu, wo es blitzte und brodelte, bis sie sich verstreuten und verschwanden.
Dies war unverfälschte Natur. Vor uns erstreckte sich der Golf von Kalifornien, und hinter uns lag die Sonorawüste ausgebreitet. Die öden Berge, die sich auf der anderen Seite blau wellten, waren die über tausend Kilometer lange mexikanische Wüstenhalbinsel Baja California, Niederkalifornien. Wir mußten rückwärts aus dem Gesträuch und wieder in den Kakteenwald fahren; am ganzen Ufer waren keine Hütte und keine Spuren von Menschen zu sehen, wir mußten wahrscheinlich den Golf noch weiter hinauffahren. Dann lag das Indianerdorf vor uns, gerade als die Sonne hinter den Bergkonturen auf der anderen Seite versank und das Meer allmählich schwarz wurde. Die letzten Überlebenden des einst mächtigen Seris-Stammes hatten nicht gerade eine romantische Baukunst übernommen beim Kontakt mit dem weißen Mann und seiner Kultur. Etwa zehn Familien von zusammen fast sechzig Erwachsenen und Kindern hatten sich hier im Sand auf der nackten Punta Chueca-Landzunge niedergelassen, wo jeder Familienvater einen kleinen Schuppen aus Wellblech und Teerpappe errichtet hatte. Drinnen gab es kaum genug Platz, um sich auf dem Sandboden lang auszustrecken. Das Baumaterial und die Abfallhaufen an den Rückwänden voll von zerbrochenem Glas und Blechdosen waren das Resultat von eingetauschten Schildkröten, welche die Indianer lebend fingen und in einer kleinen eingezäunten Grube am Wasser herumkrauchen ließen.
Die Indianer reagierten so gut wie gar nicht auf unser Kommen. Die meisten ließen sich in ihrer Beschäftigung nicht stören, saßen in kleinen Gruppen zusammen oder gingen ruhig zwischen den Hütten umher, in eine Mischung von farbenfrohen Stirnbändern, selbstgemachtem Schmuck und langen bunten Gewändern im Zigeunerstil gehüllt, alles nach Indianergeschmack eingekauft und zusammengestellt. Die Männer trugen lange schwarze Zöpfe, die in Flechten bis auf die Lenden herabhingen. Die Frauen hatten ihre Gesichter mit Strichen und Punkten symmetrisch bemalt. Barbarisch pikant und zeitlos. Einst war das Mode, und einige Anzeichen deuten darauf hin, daß es als letzter Schrei wieder aus der Versenkung auftaucht. Eine recht hübsche Frau, in einem Kleid, das ihr bis zu den Füßen reichte, saß inmitten von anderen Frauen, die in kleinen Schalen Naturfarben mit Öl verkneteten; eine von ihnen hatte einen Lippenstift erworben, der sich als sehr geeignet erwies, senkrechte Striche auf das Kinn zu zeichnen. Sie winkte Ramons Frau energisch heran, die bewundernd zusah und sich jetzt in den Sand setzen und sich das Gesicht im gleichen Muster bemalen lassen mußte. Einige Greise und ein Haufen Kinder waren zu uns herübergekommen, und bald wurde Ramon wiedererkannt. Die Kinder sausten pfeilschnell zu einer Hütte und holten Chuchu und seine ganze Familie herbei. Er hatte Ramon beim letzten Mal als Führer und Dolmetscher gedient, als dieser hier gewesen war, um Robben und andere Tiere im Golf zu filmen. Jetzt erst herrschte allgemeine Wiedersehensfreude.
Was, Ramon war mit einem Freund gekommen, der ihre Schilfboote sehen wollte? Aber kein Seris-Indianer baute jetzt noch Askam . Das Boot, das Ramon vor zwei Jahren gesehen hatte? Es war das letzte, das sie gebaut hatten. Nicht einmal das andere Seris-Dorf, weiter nach Norden an der Küste, benutzte heute Askam; die Regierung hatte jedem Dorf zu einem Holzboot mit Außenbordmotor verholfen. Ein kleines nacktes Kerlchen mit, energischem Gesicht verschwand wie ein Blitz und kam entzückt mit einem kleinen Spielzeugboot zurück. Es war ein Zerstörer aus gelbem Plastik.
Die Nacht brach über uns herein, wir borgten uns einige Pappkartons, zerlegten sie und ließen uns auf ihnen in einem Fischergarnschuppen zum Schlafen nieder. Die ganze Nacht summte das monotone unverständliche Geschwätz der Indianer,
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