Exponentialdrift - Exponentialdrift
hätte man ihn nicht in diesen Körper schicken müssen. Nein, worauf es ankam, war die Erfahrung , ein Mensch zu sein. Das war es, was nötig war, um sie wirklich zu verstehen.
Er stand auf, trat ans Fenster. Draußen war es bewölkt und etwas kühler nach einer Reihe von, wie er gleichfalls der Erinnerung Bernhard Abels entnahm, für Anfang Februar ungewöhnlich frühlingshaften Tagen. Unten an der Ampel wartete eine Frau mit orangerotem Lockenhaar, die dicke rote Herzen auf die Wangen gemalt trug.
»Es ist Karneval«, fiel ihm ein, und dann dachte er daran, daß die Frau Bernhard Abels heute abend wiederkommen würde und sie es dann wieder tun konnten.
Doktor Jürgen Röber saß im ICE nach Berlin, hatte eine kleine blaue Schachtel mit einem Verlobungsring in der Tasche und ein mulmiges Gefühl im Bauch. Das war normal, wenn man vorhatte, einer Frau einen Heiratsantrag zu machen, oder? Allerdings war ihm nicht klar, was genau sich eigentlich verändern sollte durch eine Heirat – unter Garantie würde Susanne nicht aus Berlin wegwollen, mit anderen Worten, er würde sich doch eine Stelle dort suchen müssen, was wiederum er schon die ganze Zeit hätte tun können und nicht getan hatte.
Nicht dran denken. Auf sich zukommen lassen. Er fixierte die rot glimmende Geschwindigkeitsanzeige, die 249 km/h anzeigte, und versuchte, sich zu entspannen.
Susanne empfing ihn völlig unentspannt. »Ich bin auf den Hexenball eingeladen!« verkündete sie atemlos, und er erfuhr auf den folgenden Metern Bahnsteig, daß es sich dabei um einen karnevalistischen Geheimbund handelte, dem ausschließlich Frauen angehörten und dessen einziger Daseinszweck war, am Abend des anderswo »Weiberfasnacht« genannten Donnerstags ein Fest von legendären Ausmaßen zu feiern. »Da treffen sich Bundestagsabgeordnete, Managerinnen, Redakteurinnen, die weibliche Crème de la crème . Was man da allein an Kontakten knüpfen kann! Undausschließlich Frauen. Männliches kommt nur rein, wenn es tot und eßbar ist. Jedenfalls muß ich da hin.« Sie kramte ihre Autoschlüssel hervor. »Wir holen das Dinner bei Kerzenschein und Klaviermusik morgen nach, versprochen. Du bist mir nicht böse, wenn ich dich einfach vor dem Haus absetze? Ich muß noch weiter zum Friseur und zum Kostümverleih.«
Wenig später stand er in einer merkwürdig stillen Wohnung vor dem geöffneten Gefrierschrank, musterte die Tiefkühlgerichte und hatte auf keines davon Appetit. Das Fernsehprogramm bot Klinikum Berlin Mitte und Mer losse d’r Dom in Kölle , also zog er die Jacke über und beschloß, mal wieder Berliner Luft zu schnuppern.
Einen Döner und ein paar U-Bahn-Stationen weiter fand er sich in der Gegend wieder, in der zu seiner Studentenzeit die angesagten Kneipen und Discos gewesen waren, und einige davon waren immer noch da, als sei keine Zeit vergangen. Er ließ sich treiben, begegnete Bären, Clowns und Indianern, ergatterte an einem knallvollen Tresen ein Bier, von dem er nicht wußte, ob es billig war oder teuer, weil der Zapfer Euro wollte, und hörte in einer rauchigen Ecke Gesprächen zu, die er so ähnlich früher selber geführt hatte. Eine Frau, an deren beachtlichem Körper man kaum unterscheiden konnte, was Bemalung war und was Stoff, tanzte lasziv und selbstvergessen, umringt von Männern, die sie nicht aus den Augen ließen, genausowenig wie er das tat.
An der Bar redete eine Frau mit blauen Haaren, die ihm vage bekannt vorkam, auf einen Mann in kotzgrüner Jacke ein. Der Typ verdrückte sich und oops! sie kam herüber und sagte: »Na so ein Zufall!«, und da wußte er es wieder: die Sekretärin von Professor Schmidt, seinem alten Doktorvater.
»Blau ist immer noch Ihre Lieblingsfarbe«, sagte er, weil ihm sonst nichts einfiel. Sie trug heute sogar blauenLippenstift und ein knappes Top, das mit ihrem Busen kaum zurande kam.
»Er hat mich gefeuert, Ihr Professor. Zwei Tage, nachdem Sie da waren. Schönes neues Jahr.« Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Aber das wird meine Rache. Das war ein Journalist eben. Dem verkauf’ ich die Story von den Außerirdischen, wie finden Sie das?«
»Oh«, machte er. »Ich wußte nicht, daß das geht.«
»Man staunt immer wieder, was alles geht«, erwiderte sie mit vielsagendem Lächeln. »Und was machen Sie eigentlich hier, so ganz alleine?« Ihre Wimpern waren lang und ebenfalls blau gefärbt, bemerkte Röber.
Fortsetzung folgt ...
12. Februar 2002
Vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den
Weitere Kostenlose Bücher