Exponentialdrift - Exponentialdrift
beschlagenen Spiegel frei, starrte sein blasses Spiegelbild an und gestand sich, daß es der beste Sex seines Lebens gewesen war.
Susanne kam um halb zwölf. Sie frühstückten, und sie erzählte ihm, wen sie alles Wichtiges kennengelernt hatte. Sie machten einen ausgedehnten, schweigsamen Spaziergang, aßen abends bei Kerzenschein und gingen miteinander ins Bett. Es war, na ja, okay.
Am anderen Morgen fuhr Jürgen Röber zurück, die Schachtel mit dem Verlobungsring immer noch in der Tasche.
Draußen dunkelte es. Professor Doktor Gernhardt Schmidt saß über Verwaltungskram, von dem er sich nur zu gern ablenken ließ, als das Telefon klingelte. Er nahm ab. »Ja?«
»Der englische Patient ist auf Reisen gegangen«, sagte eine Stimme mit britischem Akzent am anderen Ende der Leitung.
Die Gestalt des Neurologen straffte sich. »Also doch. Und? Weiß man, wohin?«
»Soweit wir wissen, nimmt er an einer Studienreise nach Köln teil.«
Fortsetzung folgt ...
21. Februar 2002
Pakistanische Behörden bestätigen, daß der in Karatschi entführte US-amerikanische Journalist Daniel Pearl tot ist. Es wurde ein Video gefunden, das seine Hinrichtung zeigt.
24. Februar 2002
Die XIX. Olympischen Winterspiele in Salt Lake City gehen zu Ende. Deutschland belegt mit 12 mal Gold, 16 mal Silber und 7 mal Bronze in der Nationenwertung den ersten Platz.
FOLGE 22
D AS WAR MORGENS immer der Moment der Ankunft: nach dem Uringestank des Parkhauses, nach den Abgasschwaden in den Straßen und dem ranzigen Fettmief kalter Imbißbuden das gläserne Portal der Parfümerie aufzuschließen und einzutreten in die Welt der Düfte, umfangen und umhüllt zu werden von duftig-fruchtigen Aromen und sinnlich-schwerem Moschus. Eine andere Welt, strahlend, hell, wunderbar, eine Welt, die nichts gemein hatte mit den kalten Mauern und muffigen Mienen dort draußen. Evelyn Abel brauchte nur durch diese Tür zu treten, um zu spüren, wie sie größer und gerader, wie sie verwandelt wurde und erhoben in andere Ebenen des Daseins.
Obwohl sie in letzter Zeit eigentlich fortwährend dort lebte, in diesen anderen Ebenen des Daseins. Was an Bernhard lag, der wie verwandelt war seit jenem Abend, an dem sie die Initiative ergriffen hatte. Sein sexuelles Erwachen verblüffte sie seither jeden Tag aufs neue. Wie ein Jugendlicher war er, konnte nicht genug kriegen, und das auf so staunende, unschuldige Weise, daß die Erklärung, er sei ein Außerirdischer, der im Körper eines Menschen das Leben der Menschen erforschte, fast die glaubhafteste war.
Zugleich war er viel einfühlsamer als je zuvor – weniger tollpatschig, nicht so ungeschickt und ungewollt grob wie früher, sondern so, als habe er einen direkten Draht zu ihrem Nervensystem gefunden, durch den er mitempfand, was ihr gefiel und was nicht. Das Wort ›traumhaft‹ war das einzige, das ihre Nächte zur Zeit einigermaßen treffend charakterisierte.
»Dein Gschpusi hat gestern noch angerufen«, eröffnete ihr Dorothee, die aus unerfindlichen Gründen Mitteilungen emotionalen Gehalts stets in einem österreichisch-bayerischen Mischakzent artikulierte.
»Ach ja?« Evelyn hängte ihren Mantel auf, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Das war der Tropfen Wermut in ihrer Glückseligkeit.
»Ich soll dir ausrichten, daß er heute in der Mittagspause auf dich wartet. In eurem Lokal.« Dieses Lauern in ihrem Blick!
»So.« Evelyn hatte sich wieder im Griff, lächelte. »Danke.«
»Aber ...« – Dorothee folgte ihr, als sie nach vorn in den Laden ging –, »aber du mußt wieder zurückkommen, Evi! Ich hab’ einen Termin beim Augenarzt, auf den warte ich seit zwei Monaten.«
»Ja, sicher.« Noch fünf Minuten bis zum Öffnen. Sie würde hingehen. Sie würde ihn treffen und ihm weh tun.
Es trieb Bernhard Abel seit Tagen in die Stadtbücherei, wo er die Vormittage saß und Bücher über Biologie, Zoologie und Sexualkunde studierte. Es war erstaunlich, was er fand. Er las von homosexuellen Gänsen, masturbierenden Rothirschen und promiskuitiven Delphinen, erfuhr, daß Nerze und Zobel acht Stunden lang kopulieren, Grizzlybären alle zwei bis drei Jahre eine einmonatige Romanze haben, nach der sie ihrer Wege gehen und einander nie wiedersehen, und daß sich das Männchen der Mantis , der Gottesanbeterin, während des Zeugungsakts bei lebendigem Leib von seiner Partnerin verzehren läßt, bis nur noch der ausgehöhlte Hinterleib, der Sitz der Geschlechtsorgane, übrig ist. Aber all diese bizarren
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