Exponentialdrift - Exponentialdrift
Details konnten nur auf den ersten Blick ablenken von der Tatsache, daß kein Lebewesen diesesPlaneten so besessen vom Sex war wie die Menschen. Andere Tierarten kopulierten länger, heftiger oder öfter hintereinander, doch einzig die Menschen waren permanent kopulationsbereit, zu jeder Zeit des Jahres, fast ihr Leben lang, weit über das Alter hinaus, in dem es fortpflanzungsmäßig Sinn machte. Sie waren die einzigen, die danach gierten, Artgenossen bei sexuellen Handlungen zuzuschauen. Und paradoxerweise waren sie auch die einzige Lebensform, die aus allem, was mit Sexualität zu tun hatte, ein Problem zu konstruieren verstand. Die verschiedensten Moralvorstellungen wetteiferten miteinander in dem Bemühen, dafür zu sorgen, daß die Menschen, wenn sie es schon dauernd taten, wenigstens ein schlechtes Gewissen dabei hatten.
Obwohl Bernhard Abel kein Mensch war, sondern nur den Körper eines solchen bewohnte, vermochte er all das nachzuvollziehen. Er nahm die Lockungen wahr, die von Menschen weiblichen Geschlechts, denen er begegnete, fortwährend ausgingen – von ihrer Art, die sekundären Geschlechtsmerkmale zu betonen und sich zu kleiden, von ihren Blicken und ihrer Art, sich zu bewegen –, zugleich spürte er die Hemmungen, die seinem Körper antrainiert waren. Er wußte, daß er sich diesen Frauen nicht einfach nähern durfte; man erwartete von ihm, seine Triebe zu zügeln.
»Bernhard Abel?« sagte jemand.
Er sah von seinem Buch auf. Ein grauhaariger Mann stand neben ihm. Er trug einen bürstenartigen, stahlfarbenen Schnurrbart und ein Tweedsakko und sah abwartend auf ihn herab.
»Ja, bitte?« fragte Abel.
»Mein Name ist Borsa«, sagte der Mann. Erst jetzt kam Abel zu Bewußtsein, daß er Englisch sprach. »Wir kennen uns. Ich fürchte allerdings, Sie erinnern sich nicht an mich.«
Er sah an ihm hoch, fand nichts in seiner Erinnerung. »Indeed not« , kam es wie von selbst über seine Lippen. Bernhard Abels Englischkenntnisse funktionierten noch.
»Ich komme von da, wo auch Sie herkommen. Nur bin ich schon zweiundzwanzig Jahre länger auf diesem Planeten.« Er machte eine einladende Handbewegung. »Wollen wir ein wenig hinausgehen in den Park?«
»Wozu?«
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen, sich zu erinnern. An Ihren wahren Namen. Und daran, was es mit der Exponentialdrift auf sich hat.«
Fortsetzung folgt ...
27. Februar 2002
Nach einem Brandanschlag auf einen mit fundamentalistischen Hindus besetzten Zug brechen im indischen Bundesstaat Gujarat religiös motivierte Unruhen aus, denen Hunderte von Menschen zum Opfer fallen.
28. Februar 2002
Kofi Annan, Friedensnobelpreisträger des Jahres 2001, hält als erster UN-Generalsekretär eine Rede vor dem Bundestag.
1. März 2002
Die amerikanische Raumfähre Columbia startet zu einem elftägigen Reparatureinsatz am Weltraumteleskop Hubble .
FOLGE 23
S IE GINGEN IN den Stadtgarten. Durch die kahlen Bäume hindurch ahnte man den behäbig vorbeiziehenden Fluß.
»Wie haben Sie mich gefunden?« fragte Abel.
»Über den Kanal. Sie senden. Wenn man weiß, worauf man achten muß, kann man Sie erfassen.« Der Mann mit dem grauen Schnauzbart, der sich Borsa nannte und Englisch sprach, deutete einladend auf eine frei stehende Parkbank. »Setzen wir uns doch.«
Es war kalt, der Himmel versprach Regen. Abel nahm zögernd Platz. »Der Kanal – was ist das?«
»Unser eigentlicher Verständigungsweg«, erwiderte Borsa und lächelte entschuldigend. »Ihr Zugang öffnet sich allmählich, aber ich fürchte, Sie werden ihn während Ihrer Erdenzeit nicht in vollem Umfang bekommen. Das ist der Preis, den Sie zahlen.«
»Zahlen? Wofür?«
»Für die gelungene Verschmelzung. Es war klar, daß Sie dafür einiges aufgeben mußten. Unter anderem den größten Teil Ihrer Erinnerungen – Sie wären Ihnen bei dieser Mission nur hinderlich. Es geht nicht um uns, das haben Sie schon verstanden. Es geht um die Menschen und ihre Zukunft.«
Abel nickte. »Ja. Eine Art Prozeß findet statt.«
Borsa schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich muß darüber schweigen, im Moment zumindest. Zuviel Wissen aus unserer Welt könnte Sie gefährden, verstehen Sie?«
Abel verstand nicht, aber da war ein vages, Millionen von Kilometern entferntes Gefühl, das ihm sagte, daß Borsa recht hatte. Daß es Bereiche gab, an die er nicht rührendurfte. Zuviel hing davon ab. »Sie wollten mir sagen, was ›Exponentialdrift‹ bedeutet.«
Borsa nickte bedächtig. »Exponentialdrift, ja.
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