Exponentialdrift - Exponentialdrift
hätte. Doch als sie sich umdrehte, um wieder zu gehen, stand Wolfgang wie aus dem Boden gewachsen vor ihr und wies mit einem schiefen, unfrohen Lächeln auf einen Tisch in der Nähe des Eingangs. »Dort drüben.«
Sie musterte ihn, während die Bedienung desinteressiert ihre Bestellung aufnahm. Er wirkte fahrig, abgehetzt, so, als habe er seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen. Er hatte sich für ihr Treffen in Anzug und Krawatte geworfen, aber er sah darin wie verkleidet aus.
»Du hast seit Januar nichts von dir hören lassen«, sagte er, als die Frau mit der weißen Schürze gegangen war und das Warten begann. Seine Hände griffen ohne Umschweife nach den Zigaretten. Sie haßte es auf einmal.
»Es ging nicht«, sagte sie, weil sie erst noch Kraft sammeln mußte für den Moment, in dem sie ihm den Schlag versetzte.
»Du hast dich verleugnen lassen.« Seine Hand mit dem Feuerzeug bebte. »Sag nichts. Ich weiß es. Ich bin mit dem Handy vor der Parfümerie gestanden und habe dich gesehen. Ich konnte es von deinen Lippen ablesen, dieses ›Ich bin nicht da‹.«
»Es ging nicht«, sagte sie noch einmal und sah auf die Tischdecke hinab, weißes Leinen, gestärkt, ein strapazierfähiges Tuch, das man jeden Tag waschen und bügeln konnte, ohne daß es Schaden nahm. »Und es ... geht auch in Zukunftnicht mehr, Wolfgang. Es geht nicht mehr.« Sie sah auf und wollte noch »Es ist vorbei« sagen, doch dann sah sie sein kreidebleiches Gesicht und ließ es.
Er nahm die frisch angezündete Zigarette aus dem Mund und drückte sie im Aschenbecher aus, zerquetschte sie zu Bröseln, vernichtete sie. »Ich verstehe«, nickte er und nickte heftig, während seine Hände, als wüßten sie nichts anderes zu tun, schon wieder nach der Schachtel griffen. »Was habe ich mir auch eingebildet? Ich war doch bloß der Lückenbüßer. Jemand, der dich zum Essen ausführt und deine Vorhangstangen anschraubt, solange der Gatte indisponiert ist. Zur Belohnung gibt’s ein bißchen Sex ab und zu, und das war’s dann. Toll. Echt großartig. Du kannst stolz auf dich sein, wie du das hingekriegt hast.«
Evelyn seufzte schmerzlich. »So war es nicht, Wolfgang, das weißt du ganz genau.« Sie sah auf ihre Hände hinab und merkte, daß sie wie besessen an ihrem Ehering drehte. »Mach es doch nicht kaputt.«
Wolfgang Krentz sog an seiner Zigarette, als wolle er sie in einem Zug rauchen. Sein Blick ging hinaus auf die Straße, folgte den Autos und Passanten, unruhig suchend. »Weiß er von uns?«
»Wer? Bernhard? Nein. Denke ich jedenfalls.«
»Was würde er tun, wenn er es wüßte?«
Evelyn starrte ihn ungläubig an. In seinem Gesicht war plötzlich ein häßlicher, gemeiner, gewalttätiger Zug, den sie noch nie gesehen und auch nie zu sehen erwartet hatte. »Das ist nicht dein Ernst.«
Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig. »Ich weiß nicht«, sagte er tonlos. »Vielleicht doch.«
Abel blieb lange auf der Parkbank sitzen, achtete nicht auf den einsetzenden Nieselregen und auch nicht auf diePassanten, die vorbeieilten und ihn unter ihren Schirmen und Regenmänteln hervor musterten.
Koairin. War das sein Name, sein wahrer Name? Der Name der Seele, die sich des Körpers eines Menschen namens Bernhard Abel bemächtigt hatte?
Koairin. Das Wort hallte eigentümlich wieder in seinem Inneren. Aber war es ein Name? Er wußte es nicht. Noch jedenfalls fühlte er sich außerstande, dieses Wort mit sich selbst gleichzusetzen. In seinen Ohren hatte es den Klang eines fremden Titels, einer Ehrenbezeichnung vielleicht. Aber seine Ohren waren die eines Menschen. Eines Menschen, mit dem er die Verschmelzung geschafft hatte.
Dieser Gedanke löste etwas in ihm aus, seltsame Bilder, wie aus fiebrigen Wachträumen. Gespräche, Begegnungen, Äußerungen voll angespannter Hoffnung. Verschmelzung. Eine Verantwortung verband sich damit, noch ungreifbar, unklar, verschwommen. Und eine Aussicht: auf eine lange Zeit in diesem Körper. Jahre. Dies war nichts Vorläufiges, Vorübergehendes. Seine Mission war auf Dauer angelegt, würde womöglich Jahrzehnte beanspruchen. Er würde behutsam vorgehen müssen, sich mit Bedacht bewegen, oft geduldig und lange warten.
Denn die Schatten an den äußersten Rändern seines Bewußtseins waren, das begriff er jetzt, mehr als das. Es waren Feinde. Er würde es mit Kräften zu tun bekommen, die unvorstellbar mächtig waren und ohne jedes Erbarmen.
Am 1. März 2002, um 6 Uhr 22 Ostküstenzeit, startete die Raumfähre
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