Exponentialdrift - Exponentialdrift
könne man doch wohl endlich ausgehen wie in alten Zeiten. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft, erprobte Babysitterin seit Jahren, kümmerte sich um Theresa. Und was Evelyns Geschäftskollegin anbelangte, war die eine leidenschaftliche Kinogängerin, die mit ihrem Urteil noch nie ernsthaft daneben gelegen hatte.
A Beautiful Mind also. Erst seit ein, zwei Wochen im Kino. Ein Film, der die Lebensgeschichte des genialen Mathematikers John Nash schilderte. Gezeigt wurde, wie Nash sich als junger Student an der Universität herumtrieb, ohne je eine Vorlesung zu besuchen, immer auf der Suche nach einem Problem, durch dessen Lösung er sich einen Namen machen konnte. Gezeigt wurde, wie er darauf kam, den Aufsatz zu schreiben, der ihm Jahrzehnte später den Wirtschaftsnobelpreis einbringen sollte. Gezeigt wurde, daß ihm jene Arbeit in der Nachkriegszeit zunächst eine Anstellung beim US-Verteidigungsministerium einbrachte, wie ihn der US-Geheimdienst als Entschlüsselungsexperten rekrutierte, wie er verschlüsselte Botschaften auswertete, regelmäßig seine Berichte an konspirativen Orten hinterlegte und von feindlichen Agenten bespitzelt wurde. Doch plötzlich, vollkommen überraschend, entpuppte sich die gesamte Agentengeschichte als schizophrene Wahnvorstellung, und manfragte sich ebensolange wie vergeblich, an welcher Stelle genau man als Zuschauer eigentlich dem Protagonisten ins Reich des Abstrusen gefolgt war.
Als sie das Metropol verließen, tat Bernhard Abel das mit dem ausgesprochen mulmigen Gefühl, gerade die Geschichte seines eigenen Lebens gesehen zu haben. Waren seine Überzeugungen nicht genauso haarsträubend? Seine Gewißheit, ein Außerirdischer im Körper eines Menschen zu sein? Seine Begegnungen mit getarnten Artgenossen – der Mann im roten Parka, der ihn im November aufgesucht hatte? Der Engländer im Stadtpark? Seine Mission? Hatte er denn auch nur den Hauch eines Beweises, daß sich die Dinge so verhielten, wie er es glaubte? Sprach nicht die bloße Wahrscheinlichkeit dafür, daß alles nur Hirngespinste waren, Nachwirkungen seines Komas im besten Fall und Vorzeichen einer ausbrechenden Schizophrenie im schlechtesten?
Er musterte die Frau an seiner Seite. Evelyn , ermahnte er sich, ihren Namen mitzudenken. Hatte sie ihn deshalb ausgerechnet in diesen Film gelotst? Um ihn zu einer Wiederaufnahme der Sitzungen bei Doktor Hahn zu bewegen?
Und war das am Ende womöglich sogar eine gute Idee und das einzig Richtige?
Doch Evelyn wirkte arglos, schien an völlig andere Dinge zu denken. »Übrigens, ich habe neulich mit einer Schulfreundin ausgemacht, daß ich sie besuchen komme«, sagte sie. »An dem Wochenende nach Ostern. Da ist ihr Mann mit den Kindern weg, und wir können in Ruhe über die alten Zeiten reden.«
Etwas war merkwürdig an der Art, wie sie es sagte. Sie klang geistesabwesend, fast als spreche sie mit sich selbst, doch zugleich wirkte sie bis zum Zerreißen angespannt. Daß da mehr war als das, was sie gesagt hatte, war spürbar wie ein elektrisches Feld.
»Du kommst doch zurecht, oder, Bernhard?« Sie sah ihn an. Ihre Augen bewegten sich unruhig, schienen mit ihren Bewegungen einen Geheimcode zu übertragen.
Bernhard Abel reagierte instinktiv.
Er öffnete den Kanal und las ihre Gedanken.
Fortsetzung folgt ...
29. März 2002
Israelische Soldaten nehmen den Amtssitz von Palästinenserpräsident Arafat ein und kappen alle Verbindungen zur Außenwelt.
30. März 2002
»Queen Mum«, die Mutter der britischen Königin Elisabeth II., stirbt im Alter von 101 Jahren auf Schloß Windsor.
1. April 2002
Israelische Panzer rücken in Kalkilia, Tulkarem und Bethlehem ein. Die Belagerung der Geburtskirche Christi, in der sich 150 teils bewaffnete Palästinenser verschanzt haben, beginnt.
FOLGE 27
U ND DAS WAR die Wahrheit hinter ihren Worten: Sie hatte eine Affäre mit einem anderen Mann, seit Jahren schon, hatte sie gehabt, während er im Koma gelegen hatte, und sie fortgesetzt, nachdem er wieder erwacht war, hatte es ihm verschwiegen und den anderen weiter getroffen, heimlich, unter Vorwänden. Hatte ihn die ganze Zeit betrogen und belogen. Log auch jetzt: Mit ihm in einem Hotel verabredet war sie an jenem Wochenende. Die Freundin war eingeweiht, um ihr ein Alibi zu geben.
Er atmete keuchend aus, krümmte sich vornüber, als habe ihm jemand eine Faust mit Hammergewalt in den Bauch gerammt.
»Bernhard?« fragte Evelyn. »Was ist?«
Er wollte schreien, seinen Schmerz blindwütig in die
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