Exponentialdrift - Exponentialdrift
stieg aus, und sie erkannten einander sofort.
Fortsetzung folgt ...
2. April 2002
Israel startet eine Offensive gegen das Flüchtlingslager Dschenin, das nach tagelangen heftigen Kämpfen erobert wird.
FOLGE 28
W OLFGANG KRENTZ WAR schlechtgelaunt an diesem Tag. Wenn die Dinge mal schiefliefen, dann richtig. Daß ihm das passieren mußte, die Hotelprospekte zu Hause zu vergessen, wo heute dringend die Anrufe zu machen waren, für den Tag , den Tag der Tage, den traurigen Höhe- und Endpunkt einer traurigen Geschichte ... Gut, eine Mahlzeit ausfallen zu lassen schadete nicht, aber mittags hungrig über die Dörfer zu fahren, von Traktoren und dicken Bussen aufgehalten zu werden, das nervte! Und Yves nervte auch. Seit Tagen rief er jeden Morgen im Institut an, war geradezu besessen davon, ihn einzuladen, im trauten Kreis seiner Familie im Garten zu grillen, Biere zu vernichten und kiloweise Kartoffelsalat dazu, den seine Frau wirklich gut machte, das mußte man zugeben. Auf den 1. Mai hatten sie sich schließlich geeinigt, heute morgen, aber es tat ihm schon jetzt leid, daß er sich hatte breitschlagen lassen. Wenn es etwas gab, das er gerade nicht verkraften würde, dann war das ein Nachmittag im Kreis einer intakten Familie, wohlgeratene Kinder, die ihn »Onkel Wolfgang« nannten und ihm ihre Spielsachen vorführten. Ihm, der sein Leben damit verbrachte, die Struktur des Universums zu enträtseln, eines Universums, das allem Anschein nach darauf angelegt war, die tiefsten Sehnsüchte eines Menschen unerfüllt zu lassen. Er beneidete seine Freunde um ihre Familien, war glühend eifersüchtig, vor allem, weil er das Gefühl hatte, daß sie selbst es überhaupt nicht schätzten, denn sie beklagten sich über ihre Frauen, stöhnten über ihre Kinder und beneideten ihn, den Junggesellen, um seineUngebundenheit. Ausgerechnet! So, wie er gerade drauf war, würde er bei der nächsten Andeutung in dieser Richtung ausrasten.
Eben weil er chronisch ungebunden war, hatte er ja auch den Kundschafter spielen müssen, als Bernhard Abel sich durch einen Schlaganfall aus der Affäre gezogen und sie alle mit dem nicht mehr funktionierenden System sitzengelassen hatte. Wie ein Spion hatte er Abels Frau beobachtet, sich auf Informationsabenden der Klinik an sie herangemacht, ihr von einem Freund vorgelogen, der seit einem Motorradunfall im Koma läge, und erfahren, daß Abel kein Wort gesagt hatte, also auch nicht das Paßwort, das sie damals gebraucht hätten. Evelyn war dankbar gewesen, daß ihr jemand zur Seite gestanden hatte. Als sie in eine kleinere Wohnung hatte ziehen müssen, hatte er geholfen und Gelegenheit gehabt, Abels Unterlagen zu sichten: auch hier kein Hinweis, kein Paßwort.
Sich zu verlieben war nicht vorgesehen gewesen. Es war passiert. Nachdem beschlossen worden war, das System noch einmal neu zu entwickeln, hatte er sich befreit gefühlt und Evelyn gebeten, ihn zu heiraten. Nicht, solange Bernhard noch lebt, war ihre Antwort gewesen.
Er hätte in diese verdammte Klinik gehen und diesem Scheißkerl das Kissen aufs Gesicht drücken sollen, dachte Wolfgang Krentz, als er den Wagen vor seiner Garage zum Stehen brachte. Dann stieg er aus und sah Bernhard Abel vor seiner Haustür stehen.
Das war zuviel.
Es gab ihn also wirklich. Falls er nicht gerade einen schizoiden Schub erlebte oder wie man das nannte. Eigenartige Ruhe befiel Bernhard Abel, während er zusah, wie der Mann, mit dem seine Frau eine Affäre hatte, aus dem Auto stieg,ihn entdeckte und förmlich rot anlief. Alle Eifersucht war verschwunden. Es war alles einfach nur noch interessant.
»Sie?!« brüllte Krentz und setzte sich in Bewegung, heftig, wütend. »Was wollen Sie hier? Was haben Sie hier zu suchen, verdammt noch mal?« Seine Hände ballten sich zu Fäusten, während er auf ihn zukam. Sehr interessant, das.
Dann stand er vor ihm, mit Augen, die ihm schier aus den Höhlen quollen, packte ihn an der Jacke und fauchte: »Was wollen Sie, Abel? Raus mit der Sprache.«
»Ich wollte sehen, ob es Sie gibt«, sagte Abel einfach, und im selben Moment verschob sich seine Wahrnehmung auf merkwürdige Weise, weil ihm etwas einfiel, das ihm die ganze Zeit schon hätte einfallen können: Der Mann im roten Parka, der ihn im November besucht hatte! Er war am Tag zuvor in der Klinik gewesen. Sein früherer Arzt, Doktor Röber, hatte mit ihm gesprochen. Diesen Mann hatte er sich nicht eingebildet. Genausowenig wie Wolfgang Krentz, der ihn mit Mordlust in
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