Exponentialdrift - Exponentialdrift
2002
Beim Schlager-Grand-Prix im estnischen Tallin erreicht die deutsche Sängerin Corinna May lediglich den 21. Platz.
FOLGE 35
B ERNHARD ABELS DENKEN und Tun klafften in diesen Wochen so drastisch wie selten zuvor auseinander. Seine Gedanken drängten ihn, etwas zu tun, zu handeln, sich in Bewegung zu setzen – den Mann im roten Parka aufzuspüren, etwa. Doch was er tat, war jeden Tag in die Bücherei zu gehen, sobald sie öffnete, dort zu lesen wie im Rausch, zwischen den Regalen umherzuwandern, aufs Geratewohl nach Büchern zu greifen, darin zu blättern, sie zurückzustellen, weiter zum Katalog, Bücher aus dem Archiv bestellen, lesen wie unter Drogen, sogar zu essen vergaß er oft. Abends mußte ihn regelmäßig eine der Angestellten auf die nahende Schließung ansprechen, damit er wieder ging, nicht ohne einen Stapel Bücher für den Abend. Er las über den Wilden Westen, die Indianerkriege und die Eroberung Mittelamerikas durch Cortez. Er las über Seuchen, Impfstoffe und den Kampf gegen die Pocken. Er las über die Weltkriege, studierte Schlachtpläne, vertiefte sich in Bilder aus den Konzentrationslagern. Und dabei hatte er keine Ahnung, was ihn eigentlich antrieb, wußte nur, daß da etwas in ihm war, das ihn drängte und anstachelte, ein Fieber des Geistes. Er wußte nur, daß die Zeit verrann und jede verstrichene Minute unwiederbringlich war.
Ihm war, als müsse er, ehe es zu spät war, die Antwort finden auf eine Frage, die er überhaupt nicht kannte.
Evelyn machte sich Sorgen, das spürte er. Er versuchte, sie teilhaben zu lassen an dem, was in ihm vorging, aber das gelang nur unvollkommen. Die Zeit! Er mußte lesen,Antworten finden, ein schweres Problem lösen. Er. Niemand anderes.
Doch am Abend eines sonnigen Maitages, während die Nachrichten von dem bevorstehenden Besuch des amerikanischen Präsidenten in Berlin berichteten, war ein Punkt völliger Erschöpfung erreicht. Abel ließ das Buch, das er in der Hand hielt, achtlos auf den Boden fallen und sagte, ohne sich etwas dabei zu denken, zu seiner Frau: »Wenn ich wenigstens wüßte, wie dieser Mann heißt, der im November hier war! Der Mann im roten Parka. Bestimmt kennt der zumindest die Frage !«
Evelyn warf ihm einen ihrer besorgten Blicke zu. »Ich verstehe zwar nicht wirklich, was du meinst, aber wie der Mann hieß, kann ich dir sagen.«
Abel starrte sie fassungslos an. »Wie bitte?«
»Ich war damals, kurz vor Weihnachten, bei Doktor Röber, und er hat mir gesagt, daß der Mann Pallens hieß, Armin Pallens.«
»Ach. Und wieso hat er mir nicht –?« Er hielt inne, spürte, wie alles in ihm sich auf ein neues Ziel ausrichtete. »Armin Pallens? Damit sollte man was anfangen können.«
Evelyn musterte ihn eine Weile, doch als er nichts mehr sagte, sondern in Nachdenken versank, wandte sie sich wieder dem Fernseher zu.
Herr Lembeck, der Geschäftsführer der Brückenkopfklinik, pflegte einmal im Monat einen Rundgang durch wechselnde Bereiche des Hauses zu machen. Dieses Ritual war unter der Belegschaft das gefürchtetste, weil es jedesmal unweigerlich einen Schwall von E-Mails, Aktennotizen und Anschläge am Schwarzen Brett nach sich zog.
Diesmal war er auf die Idee verfallen, den Keller des Nebengebäudes zu inspizieren. »Was für ein Geschäftbetreiben wir denn hier nebenbei, ein Möbellager?« fauchte er, als er in den Raum neben dem Heizkeller kam, der, da trocken und nicht anderweitig verplant, bislang so überaus praktisch gewesen war.
»Das sind Sachen, die von der Renovierung übriggeblieben sind«, erklärte Irene Kocic, die beim Loseziehen im Stationszimmer verloren und Herrn Lembeck deshalb hatte begleiten müssen.
»Von der Renovierung, aha. Und wann war die, wenn man fragen darf? Muß vor meiner Zeit gewesen sein.«
»Ich glaube, 1998.« Schwester Irene seufzte. »Im November.«
»Reizend. Und seither steht dieses Gerümpel hier herum?« Der untersetzte Mann machte ein paar staubige Schranktüren auf. »Die sind nicht mal ganz ausgeräumt worden, also wirklich.« Er zog ein ehemals weißes Hemd hervor, das nach vier Jahren Kelleraufenthalt nur noch als Vorher -Requisit für eine Waschmittelwerbung taugte, und hielt es der Krankenschwester unter die Nase. »Da. Hat doch sicher mal einem Patienten gehört, oder?«
Sie nahm es entgegen und betrachtete es. Das Monogramm auf der Brusttasche kannte sie. Es waren nicht viele Leute hiergewesen, deren sämtliche Kleidungsstücke Monogramme getragen hatten. »Das muß
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