Exponentialdrift - Exponentialdrift
in der Science-Fiction so noch nie geschildert worden ist. Im Moment sei nur so viel verraten: Sie schreiben uns Menschen eine verhängnisvolle Eigenschaft zu, die sie in unserer Sprache »Exponentialdrift« nennen, und sie fürchten uns aufgrund einer alten, simplen mathematischen Rechnung, die bei ihnen »Nemezirs Berechnung« heißt.
Doch unsere Hauptfigur ist der erste Gesandte, der einen Menschen »übernommen« hat, ohne dessen Bewußtsein auszulöschen, trotz der massiven Anpassungsprobleme, die dieser Weg mit sich bringt. Er hat es getan, weil er für eine neue Denkrichtung steht, die nicht bereit ist, Gewalt als einziges Mittel zur Lösung des Menschenproblems zu akzeptieren. Er kommt als eine Art Anwalt der Menschen und soll nach Argumenten suchen, diese Spezies am Leben zu lassen.
Seine Ankunft auf der Erde entfacht eine Diskussion unter den Außerirdischen. Die Hardliner unter seinen Artgenossen werfen ihm vor, sich mit der Lebensweise der Menschen infiziert und deshalb ihre Partei ergriffen zu haben: Weil er das Menschliche in dem übernommenen Körper nicht radikal ausgemerzt habe, sei er den Verlockungen dieser Daseinsform erlegen. Er argumentiert dagegen, wenn die Exponentialdrift etwas sei, mit dem man sich anstecken könne, dann könne man auch davon geheilt werden, und in diesem Fall gebiete es die Ethik, nach einem Heilmittel zu suchen, anstatt die Kranken auszurotten.
So führen die Außerirdischen eine Diskussion, die im Grunde die unsere ist: Sie suchen nach Visionen für die Zukunft der Menschheit.Stellen Sie sich eine Geschichte vor, in der – vielleicht – gerade in dem Moment, in dem alles auf eine simple Science-Fiction-Verschwörungslegende hinauszulaufen scheint, ein zweiter Strang der Handlung alles wieder in Frage stellt. Eine Gruppe von Neurologen und Bewußtseinsforschern kommt nämlich dem Phänomen auf die Spur, daß Menschen auf einer zutiefst unbewußten Ebene miteinander kommunizieren und Vereinbarungen treffen, Verabredungen über die gemeinsame Interpretation der Wirklichkeit. Nicht nur Religionen, Trends und Moden erklären sich so, sondern auch Erfahrungen wie Synchronizität und Telepathie. Vorstellungen, Ideen, Absichten können sich gewissermaßen verselbständigen und zu sogenannten »Memen« werden, die sich von Mensch zu Mensch fortpflanzen, die für sie nichts anderes sind als »Wirte«.
Diese Wissenschaftler glauben, daß alle, die sich für Aliens halten, in Wirklichkeit von demselben »Mem-Virus« befallen sind: ein Konglomerat von Vorstellungen und Überzeugungen, das sich im Zusammenspiel zwischen den Medien und deren Konsumenten entwickelt hat und dafür besonders empfängliche Personen dazu verleitet zu glauben, man müsse die Menschheit vernichten, um die Welt zu retten.
Und wenn das so ist, dann kann es eine Variante dieses Mem-Virus geben, die Befallene zerstörerisch handeln läßt, ohne daß es ihnen bewußt wird ...
Stellen Sie sich eine Geschichte vor, die über all das noch weit hinausgehen kann. Denn wir haben gerade erst angefangen, ihr Potential auszuloten.
Dieses Konzept stieß, zumindest soweit ich das mitbekommen habe, auf Zustimmung, und es weckte, was ja auch Absicht gewesen war, erwartungsvolle Vorfreude. Eine Weilediskutierten wir noch über den Titel der Serie. Mir war der wissenschaftlich klingende, in Wahrheit frei erfundene Begriff Exponentialdrift in den Sinn gekommen, ein Wort, das für meine Begriffe exponentielles Wachstum mit Unaufhaltsamkeit verband – ich assoziierte Kontinentaldrift , die Wanderung der Erdschollen, eine der unaufhaltsamsten Bewegungen, die wir kennen. Es gab allerdings auch andere Vorschläge; einer davon war der Titel Die Menschenfrage , der einige Zeit sogar der Favorit war, bis wir uns aus Gründen, die ich nicht mehr wirklich nachvollziehen kann, schließlich doch für Exponentialdrift entschieden.
Es konnte losgehen. Es mußte mir nur noch einfallen, was genau eigentlich in der Geschichte passieren sollte. Und das möglichst innerhalb der nächsten zehn Tage.
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Der 11. September 2001
S EIT MONATEN FIEBERTE ich auf den 11. September 2001 hin. Entgegen aller Vernunft erhoffte ich mir Epochales von diesem Tag. Dieser Tag, wünschte ich mir, sollte Geschichte schreiben.
Wie wir alle wissen, tat er es. Bloß anders, als ich es mir vorgestellt hatte.
Seit Erscheinen des Herbstkataloges stand der 11. September 2001 nämlich als offizieller Ersterscheinungstag meines neuesten, bis dato umfangreichsten
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