Export A
schüttelt erneut rügend den Kopf.
Er fühlt sich tatsächlich für mich verantwortlich. Ich weiß nicht, ob mich das froh oder wütend macht. Schweigend mustere ich sein Gesicht. Eine skeptische rechte Braue hebt sich unter meinem prüfenden Blick. Ich antworte, wie ich es vor dem Spiegel geübt habe, und ziehe meinerseits die linke Augenbraue hoch. Josh grinst.
Ich auch.
Als er aufsteht und geht, fällt der Raum in die alte Langeweile zurück.
Schaumgummi quillt eitrig unter den Decken hervor. Sitzen fühlt sich scheiße an. Die Lichtschlange hat die falsche Farbe.
Ich muss raus hier.
Stoner Activities.
Zehn Jahre. Zehnmal wurde die Natur wie ein Staffelstab durch Frühling, Sommer, Herbst und Winter hindurch gereicht. Auf ewig verurteilt zu neuen Kraftanstrengungen erblühte und verstarb die Welt um mich her, ein hilfloses , sinnfreies Weiterexistieren ohne Ziel.
Zehn ganze Runden hat die blaue Kugel zurückgelegt, seit ich dieses Ding das letzte Mal in der Hand hielt. Es hat auf mich gewartet, geduldig ausgeharrt in der Isolation der untersten Schublade meines ausrangierten Schreibtischs, der seit meinem endgültigen Auszug aus dem Elternhaus im Keller verstaubt.
Vorsichtig betaste ich die Oberfläche der kleinen Metalldose, meine Hand zittert, fürchtet sich vor den eingeschlossenen Erinnerungen.
Der scheinbar harmlose, handtellergroße Behälter ist eine verdammte Zeitmaschine, er beschleunigt und vertieft mein Gedächtnis, stellt die Bilder scharf. Brillant, hochglänzend und kantig rasen sie auf silbernen, geschliffenen Kufen durch mein Hirn und hinterlassen blutige Einschnitte.
Das sieht man ihm nicht an, diesem schäbigen, verbeulten Weißblechteil mit Klappdeckel. Niemand ahnt, dass es ein Knopf ist, ein kleiner, bunter Startknopf, der Bilder zündet. Mehr noch, es ist das Beweismittel, das mich überführt, mir keine Gelegenheit zur Flucht bietet, das daliegt, tastbar, sichtbar und trotzig auf seiner Anwesenheit beharrt. Ob ich die Augen schließe oder den Raum verlasse, die Dose kümmert das nicht. Sie bleibt ein Faktum, verlacht den Zeitstrahl, an dessen Pfeilspitze ich mich mit beiden Händen festklammere und mir dabei selbst Tag für Tag vorsage, dass wir in Richtung Zukunft reiten.
Ein 10 × 6 × 3 cm Stück lebendige, greifbare, müffelnde Vergangenheit, das sich frech vor mir aufbaut, über meine simple, einfältige, lineare Vorstellung von Zeit die Nase rümpft und nicht aufhören will, in mein Jetzt einzudringen. Vergangene Namen und Taten bevölkern das Jetzt, füllen es an, blähen es auf. Ich stehe hier, in dieser dünnhäutigen, zum Bersten mit Vergangenheit angefüllten Jetzt-Blase. Sie lässt nicht von mir ab, umschließt mich gänzlich, wird fetter, dichter und schwillt erbarmungslos an.
Wo werde ich sein, wenn sie platzt? Wenn Tarnung und Täuschung auffliegen?
Ich will nicht zurück!
Mir bleibt nichts anderes übrig, ich muss sie unschädlich machen, die Zeitmaschine zu einem gewöhnlichen Gegenstand machen.
Was man beherrschen will, muss man beschreiben.
Ich beginne also mit der harmlosen Vorgeschichte, die von Hals- und Rachenbeschwerden und einem Gang zur Dorfapotheke handelt, wo ich kurz vor meiner Abreise nach Kanada ein Döschen »Grether’s Lutschpastillen« kaufte.
100 Gramm kaviarschwarze, vom wachshaltigen Überzug leicht ölige, angenehm riechende Bonbons klappern in der Dose vor sich hin. Glukosesirup, Zucker und schwarzer Johannisbeersaft in zähen, weichen, länglich-ovalen 2-Gramm-Portionen, die ich wenige Monate später gegen Rauschmittel unterschiedlicher Farbe, Gewicht und Wirkung austauschen werde.
An einem kalten Morgen in Mrs. Williams Kunstunterricht verschwanden das silberne Blech und die blauen Buchstaben des Herstellers unter dem dichten Gewebe einer Collage aus Zeitschriftenschnipseln. Keine Ahnung, welchen Aufgaben sich der Rest der Klasse unterdessen widmete. Vielleicht zeichneten sie …
Bernie und ich jedenfalls saßen einträchtig und high nebeneinander in der letzten Reihe und veredelten hingebungsvoll unsere Drogendöschen und Feuerzeuge.
Mrs. Williams war eine rücksichtsvolle Person. »Stoner activities« nannte sie unsere Basteleien, und solange wir uns unauffällig verhielten, ließ sie uns gewähren.
Noch immer streicht mein Zeigefinger über die Oberfläche des verbeulten Erinnerungsbeschleunigers. Unzählige Schnipsel, jeder einzelne in mehrere Lagen Tesafilm eingeschweißt, verzieren die Seiten. Die Bildpartikel
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