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Export A

Export A

Titel: Export A Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kränzler
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überlappen und übertrumpfen sich gegenseitig, manche Ecken sind zusätzlich mit einer Schicht Klarsichtnagellack mit Glitzerpartikeln überzogen. Meine Augen reisen durch einen klebrigen, comichaften Cluster, staunen über die komprimierte, auf Zeichentrickfiguren, Symbole und Schriftzüge reduzierte Welt. Von Menschen keine Spur, bis auf die beiden, wahrscheinlich aus einer Kontaktlinsenwerbung ausgeschnittenen Augen auf den Seitenflächen. Rechts blickt es braun, links dagegen eisig blau aus dem Chaos. Ich zähle zwei rotgesichtige Teufel, zwei Schlangen (die ­größere würgt ein kleines, schwitzendes Männchen, das verzweifelt versucht, sich zu befreien), zwei betende Engel (beide kniend), ein fickendes Hasenpärchen (das blaue Häschen fickt das rosa Häschen doggystyle) und mehrere schwarze Silhouetten (die Schatten von Jungs auf Skateboards), außerdem Noten (die Melodien sind mir unbekannt) und Schriftzüge (» GET LUCKY «, »move outta town and change your name«, »playaz«, »Jimi Hendrix« usw.).
    Ich halte den Atem an, klappe den Deckel hoch und finde mein Feuerzeug. Über den Tank kriecht eine große, grüne Eidechse mit bösem Gesicht. Dicht neben ihr kleben ein weißes Kreuz auf schwarzem und schwarze Buchstaben ( »STICKY «) auf rotem Grund. Eine große, himmelblau umrandete Sprechblase verkündet » these instructions are in german«. Und – ach, es ist zu viel ⁠… viel zu viel.
    Ich habe mich zu sicher gefühlt, dachte, ich könnte ungefährdet in meinem Jetzt-Fettauge durch die Zeitsuppe schwimmen.
    Warum kann ich nicht aufhören, die Vergangenheit zu befingern? Wie im Fieber befreie ich, was unter Staubschichten verschüttet liegt. Ja, verdammt, ich habe mich getäuscht! Es ist nicht »totzuschreiben«, im Gegenteil: Die Beschreibung wird zur Beschwörung.
    Mein Daumen fährt über das Reibrad.
    Als die Flamme aufspringt, reißt das Jetzt. Die Hülle ist aufgeplatzt, die letzte Trennung aufgehoben. Nichts ist vergangen, nichts wird je vergehen. Ich habe Whitehorse nie verlassen.

***  -30° C
    Dies hier ist ein altes Kalenderblatt. Weder Datum noch Jahreszahl stimmen. Oben rechts stehen drei kleine Sternchen, mein persönliches Zeichen für »klare Nacht«, und die herrschende Temperatur (minus 30 Grad). Die Mitte des Blattes durchziehen waagerechte, filzstiftschwarze Linienblöcke aus je fünf Parallelen, verstreute Viertel-, Achtel- und ganze Noten kleben zwischen den Strichen und skizzieren eine Melodie. In den Absätzen zwischen den Noten­linien steht zu lesen:
    »dashing through the snow on a G , G , GT -sleigh at thirty below too steep the hill too long the way!
    legs and arms legs and arms hurting all the way oh, what pain it is to ride on a fucking GT -sleigh!«
    Wir sind in Declan O’Donovans Van unterwegs, einer lahmen, violetten Familienkutsche, die wir »Deep Purple« nennen. Am Ende dieser Nacht werde ich diesen Van hassen, wie ich noch nie ein Fahrzeug gehasst habe.
    Von der Rückbank aus sehe ich Declans gelbe Augen im Rückspiegel, zwei Schlitze unter einer pickligen Stirn und stumpfen braunen Haaren. Ich kann ihn nicht ausstehen, diesen drahtigen Zwerg mit der unreinen Haut und der stoppligen Gesichtsbehaarung, die außer ihm selbst wohl kaum jemand als »Bart« bezeichnen würde. Es sind vielmehr einzelne Borsten, die zwischen den roten und ­gelben Erhebungen seiner Gesichtslandschaft hervorsprießen. Dicht unter Declans Spiegelbild baumelt ein Rosenkranz. Die O’Donovans stammen aus Irland und nehmen das bei der Kindstaufe gegebene Versprechen, ihre Sprösslinge im katholischen Glauben großzuziehen, überaus ernst.
    Ihr Sohn Declan, das älteste von acht Kindern, wurde folglich nicht auf die »Porter Creek«, sondern auf die »Vanier Catholic High School« geschickt, was ihn nicht daran hinderte, sich in Porter Creek herumzutreiben und einer von Joshs besten Kunden zu werden.
    Wir biegen auf den Alaska Highway ein und fahren Richtung Süden.
    Josh sitzt auf dem Beifahrersitz. Hinten drängeln sich Graham, Bernie, ich und fünf GT -sleds. Nach 6 Kilometern biegt der Deep Purple in einen Feldweg ein, dessen makellose Schneedecke gegen die einsetzende Dämmerung leuchtet. Vorsichtig drücken wir dem Weiß unsere Reifenstempel auf. Bald geht es steil und schließlich zu steil bergauf. Die Steigung lässt dem schneekettenlosen Van nicht den Hauch einer Chance. Wir kapitulieren. Mit verbissenen, entschlossenen Gesichtern werden die GT s geschultert.
    Ein GT ist ein

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