Extraleben - Trilogie
Corporation, sondern auch die RAND Corporation residieren. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Herman Kahn den Flur entlangeilen, während sein Hirn wieder und wieder die Szenarien des thermonuklearen Holocaust durchspielt. Kein Zweifel, wir wandern durch eine Gruft, die gebaut wurde, um auszuharren, bis sich der radioaktive Fallout auf der Oberfläche gelegt hat. John scheint es wirklich eilig zu haben, denn er marschiert los, als ginge es darum, in zwanzig Minuten den nächsten Businesstermin zu erreichen - oder schon mal sein Lauftraining zu absolvieren. Mir fällt es schwer, mit ihm Schritt zu halten, vor allem jetzt, nachdem die extreme Spannung abgefallen ist und keine Endorphine mehr den Schmerz in den Beinen betäuben. Jetzt etwas essen, was Richtiges. Dass ich heute die längste Distanz seit den Bundesjugendspielen '90 gelaufen bin, scheint den Datacorp-Mann nicht im Geringsten zu stören, jedenfalls redet er in schnellem Stakkato auf mich ein, als ob wir uns gerade bei einer Konferenz in die Arme gelaufen wären.
»Haben Sie schon einmal von Xerox PARC oder den Bell Laboratories gehört?«
Um nicht zu zeigen, wie sehr mir der Atem ausgeht, nicke ich nur.
»Diese Institute waren einmal Leuchttürme der internationalen Forschungslandschaft, klingende Namen, die für revolutionäre Erfindungen standen wie den Transistor. Heute sind sie bedeutungslos geworden. Und warum?«
Diesmal wartet John nicht mein Nicken ab.
»Die Antwort lautet: Weil diese Labors zu einem Konzern gehörten und untrennbar mit seinem Schicksal verbunden waren. Das heißt, für die Forscher reichte es nicht aus, nur brillant zu forschen, sondern sie konnten ihre Arbeit nur fortsetzen, wenn es Werbung und Verkauf auch gelang, die guten Ideen in gute Produkte umzumünzen; dann floss das Geld weiter. Doch wie Sie wissen, funktionierte das leider nicht immer.«
Wohin geht dieser Vortrag, diese Reise? Was soll das alles -Raid over Moscow , der Lochstreifen, der GPS-Tracker unter der Motorhaube? John atmet - ganz Sportler - tief durch die Nase ein und bläst die Luft langsam zum Mund raus, bevor er weiterdoziert.
»Aber die großen Labs bekamen Mitte der Siebzigerjahre noch an einer anderen Front Probleme: Die Macht der Megakonzerne begann zu bröckeln. Scheinbar unverwundbare Konglomerate, die von Sprengstoff bis zu Nylonstrümpfen alles herstellten und aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken waren, gerieten ins Schwanken, wurden von Kleinen überholt oder von Corporate Raiders aufgekauft und Stück für Stück demontiert. Spätestens Anfang der Achtziger musste auch dem letzten Firmenforscher klar werden, dass sein Arbeitsplatz nie wieder so sicher sein würde wie in den Aufbaujahren nach dem Krieg.«
An einer Kreuzung stoppt mein Reiseführer, um einen Lageplan zu studieren, der in einem adretten Holzrahmen an der Wand hängt. Auf den ersten Blick wirkt das Diagramm wie ein Schaltplan aus der Zeit, als es noch Kondensatoren und Transistoren gab. Dicke Striche ziehen sich kreuz und quer über das Papier, verbinden Quadrate, zweigen ab, werden dünner oder münden in andere Striche. Nur der Hauptkorridor, auf dem wir anscheinend unterwegs sind, sticht als dickste Linie ein wenig aus dem Chaos heraus. Von ihm zweigen viele kleine Striche nach oben und unten ab, die mit Worten wie Composite Bldq ., Storage Tank und Maintenance beschriftet sind. Dazwischen stehen reichlich unverständliche Abkürzungen und Nummern. Da John anscheinend auch ein bisschen Zeit zur Orientierung braucht, bleiben mir einige Sekunden, um mich kurz umzuschauen. Hier unten scheint alles eine Nummer zu haben. An jedem Kabel, jeder Steckdose und jedem Entlüftungsschacht pappt eine kleine bronzefarbene Plakette mit schwarzer Gravur - diese Art von Schildchen, wie Rentner sie gerne nehmen, um sich gegen Werbepost abzuschirmen oder vor ihrem Schäferhund zu warnen. Selbst der Lichtschalter neben dem Lageplan hat eine Nummer: 53281,0-53281,1. Nach etwa einer halben Minute nimmt John wieder Fahrt auf. Anders als ich scheint er den Faden seiner Geschichte noch nicht verloren zu haben, denn ohne weitere Erklärungen setzt er seine Geschichte fort.
»Das Gleiche galt natürlich noch mehr für staatliche Labors. Spätestens nachdem die letzten Apollo-Astronauten im Dezember 1972 von ihrer Mondmission zurückgekehrt waren, hatte die Ära des Big Government ihr Ende erreicht, das musste wohl jeder einsehen. Amerika hatte das Space Race gewonnen, und die Bürger der westlichen
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