Extraleben - Trilogie
vertraut - das gleiche Layout wie bei den Generalstabsplänen der amerikanischen Forstbehörde, nach denen Nick und ich in den Rockies immer navigieren. Ein Kästchen entspricht einer Quadratmeile, Straßen sind durchgezeichnet, Wege gestrichelt. Doch anders als auf den Karten, die wir aus Montana kennen, ist auf dieser Karte außer Höhenlinien und vielen Flüssen absolut nichts eingezeichnet - nicht wegen eines Druckfehlers, sondern weil es schlichtweg nichts gibt. Dieeinzige dicke Linie schlängelt sich ein paar Kilometer vom Airport zum Hafen am Ende des Fjords. Von diesem bisschen Asphalt abgesehen existiert hier nichts, nur ein paar Schotterstraßen, die von Kanger aus in alle Richtungen abgehen. Der Rand des ewigen Eises ist ungefähr fünfzehn Kästen entfernt eingezeichnet. Auf den Luxus, den Bergen Namen zu geben, hat die Air Force verzichtet und stattdessen die Hügelkuppen einfach durchnummeriert: Point 543, Point 580, Point 590 und so weiter. Ein paar Ausnahmen haben sich die Pioniere, die während des Zweiten Weltkriegs die Gegend erkundet haben, gegönnt: So hat Kangerlussuaq tatsächlich seinen eigenen Zuckerhut, den »Sugar Loaf-Mountain« direkt neben der Stadt. Außerdem gibt es noch die »Ravneklippen (Black Ridge)«.
Tatsächlich, da steht es ganz deutlich, direkt neben den kleinen Kästchen, die die Baracken von Kanger symbolisieren. Sollte mein Ziel tatsächlich so nah sein? Ein kurzer Nachmittagsspaziergang, und schon klopfe ich am Hauptquartier der Datacorp an? Selbst wenn nicht - die Spur ist richtig. Black Ridge, das kann kein Zufall sein. Ich ziehe die Sixpack-Pappe aus dem Koffer, in die ich in L.A. die Koordinaten aus Moonlander geritzt habe, und versuche, mich zurechtzufinden - mit mäßigem Erfolg. Da hätte ich beim Orientierungslauf in der siebenten Klasse wohl besser mal aufgepasst. Ich hangele mich an den Breiten-und Höhengraden entlang, überschlage die Entfernung. Wie breit ist eigentlich eine Minute? Dann die Enttäuschung. Black Ridge kann nicht mein Ziel sein, dafür liegt der Bergrücken viel zu nah an der Stadt. Black Ridge II liegt in einer ganz anderen Gegend, 13 Meilen oder 20 Kilometer vom Flughafen entfernt, also viel zu weit weg, um heute noch loszumarschieren, egal, wie flach die Landschaft auch sein mag. Ich trinke meinen Kaffee aus und überlege mir, den Nachmittag für umgerechnet drei Dollar im örtlichen Fitness-Studio zu verbringen - noch so ein angenehmes Relikt aus der Zeit von Bluie West, wie die US-Basis damals hieß. Nach der Moschusochsen-Wurst wäre ein Workout angezeigt.
LEVEL 32
Zehn Uhr, Abend in Kanger. Die Sonne ist hinter den Hügeln verschwunden, und das ganze Tal um die Landebahn herum scheint zu glühen. Bis morgen Früh wird dieses dunkelrote Dämmerlicht jetzt pausenlos durch mein Fenster schimmern. Ewiger Sonnenuntergang, nichts für Melancholiker. Ich reiße eine Dose Tuborg Classic auf, das Standardbier in Grönland, Schon komisch, dass es ausgerechnet an diesem Ort nur das Bier unserer Jugend zu kaufen gibt. Ich klopfe mit dem Fingernagel wie schon Hunderte Male zuvor kurz auf den Deckel, bevor ich die Dose aufreiße und wie immer darüber nachdenke, ob diese Aktion irgend etwas bringt. Der erste Schluck sprudelt in den Mund und schmeckt sofort vertraut. Nach Kirmes auf dem Dorf, nach Fritten mit Jägersoße, nach Teenie-Geknutsche mit Fisherman's Friend in der Backentasche. Damals, da flogen Nick und ich wirklich hoch: Wir hielten den Highscore bei Operation Thunderbolt, hatten fast zeitgleich Alpha-Mädels aus der Stufe unter uns erobert, fuhren eigene Wagen. Und die Leute riefen bei uns am Samstagnachmittag an, wenn sie wissen wollten, was abends abgehen würde der ultimative Beweis dafür, Chef zu sein. Natürlich ahnten wir in diesem Frühsommer 1991 nicht, dass ab sofort nichts mehr ab-, sondern vieles nur noch abwärtsgehen würde. Das Wissen hätte aber ohnehin keinen Unterschied gemacht. Ich schaue mir auf der Seite der Dose den durstigen Mann an, der als Poster jahrelang in Nicks Bude hing, und trinke das Tuborg mit einem Zug halbleer; das mit dem Training hat gestern irgendwie nicht hingehauen, ist aber jetzt eh egal. Was hatte uns nur das Genick gebrochen? War die sorgfältig aufgebaute Mühelosigkeit schließlich in Gleichgültigkeit umgeschlagen? Oder hatten wir im blinden Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten einfach nur verpasst, uns für eine zu entscheiden? Mensch, wir hatten doch Potenzial , das war unsere Zeit!
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