Extraleben - Trilogie
kleines Wäldchen und eine kleine Passage mit Felsen, alles nicht besonders steil. Trotzdem kalkulierte ich lieber vorsichtig: »Zehn Minuten? Mindestens eine halbe Stunde!«
»Quatsch«, erwiderte Nick bestimmt. In diesem Moment war die Sache klar: Es ging um die Ehre. Meine Schätzung gegen seine. Ohne zu zögern, machte ich eine Vollbremsung, wir stiegen aus und marschierten los. Einfach so, ohne Wasser oder Essen, mit unseren ausgelatschten Chucks. Es würde ja nur zehn oder eben dreißig Minuten dauern. Nach einer halben Stunde ging es das erste Mal leicht bergauf; zu diesem Zeitpunkt hatten wir eine derart winzige Entfernung zurückgelegt, dass man das Nummernschild unseres Autos in der Ferne noch erkennen konnte. Wir taten kollektiv so, als hätten wir nichts bemerkt, und begannen mit dem Aufstieg - und zwar schnurstracks geradeaus, einfach den Berg hoch, Felsen über Felsen, ohne regelmäßig zu atmen oder so was.
»Serpentinen sind was für Verlierer«, meinte Nick, und da hier ein Kumpel-Wettkampf im Gange war, mussten wir uns wohl oder übel dran halten. Als wir nach zwei Stunden den Gipfel erreichten, hatten wir das Gefühl, jede Sekunde Blut husten zu müssen. Wir knieten auf dem Boden und röchelten in unseren klatschnassen T-Shirts zehn Minuten vor uns hin, bevor wir wieder sprechen konnten.
»Guck mal Alter«, sagte Nick, und zog ein kleines Einweckglas unter einem Steinhaufen hervor, der den Gipfel markierte. Darin lagen ein Stift, eine Packung Kondome sowie ein Notizblock, in dem die Gipfelstürmer vor uns ihre Gedanken niedergelegt hatten. Nick blätterte das Büchlein durch, bis er den letzten Eintrag fand. In einer krakeligen Kinderschrift stand da nur: „a nice 30 minute climb. tom«
LEVEL 34
Vor manche Entscheidungen im Leben sollte man nicht gestellt werden, zum Beispiel vor diese: wandern - oder mit Menschen an einem Touristeninformationsschalter sprechen. Doch genau an diesem Scheideweg stand ich heute Morgen nach dem Frühstück. Sollte ich die ganzen langen zwanzig Kilometer bis nach Black Ridge wirklich zu Fuß gehen? Da meine Wanderbegeisterung noch nicht wieder den rechten Berg der U-Kurve erreicht hatte, entschloss ich mich dagegen. Das allerdings würde bedeuten, mir eine Fahrgelegenheit zu suchen, und dafür würde ich mit jemandem sprechen müssen. Schweren Herzens trottete ich zum Infoschalter. Die Pflicht-Kommunikation lief erfreulich knapp ab: Die Dame am Auskunftsschalter, der natürlich auch im Flughafengebäude untergebracht ist, erklärte mir, dass es nur Gruppenausflüge zum Rand des Eises gäbe. Ich beschloss, in diesem Fall doch lieber zu wandern. Gott sei Dank fand sich dann doch noch ein Beförderungsmittel ohne eingebauten Redezwang: Als ich noch mal kurz auf mein Hotelzimmer ging, um mich umzuziehen, lag auf dem Schreibtisch die Visitenkarte eines Herrn namens Âke Andersson, der seine Taxidienste anbot. Ich wählte sofort seine vierstellige Telefonnummer und war überrascht, an diesem Morgen der erste Kunde zu sein. Herr Andersson versprach am Telefon, mich für umgerechnet 30 Dollar bis auf ungefähr zehn Kilometer an mein Ziel heranzufahren. Damit wäre die Wanderung auf einen Spaziergang verkürzt. Jetzt, gerade mal zehn Minuten später, steht Herr Andersson schon vor mir auf dem Hotelparkplatz, neben ihm ein dunkelgrüner Toyota Landcruiser, an den so ziemlich alles rangeklatscht wurde, was der Tuning-Markt hergibt: Dachgepäckträger mit zwei zusätzlichen Ersatzreifen drauf, Prallschutz gegen Kühe vorne, elektrische Winde, Luftansaugstutzen für Fahrten durch tiefes Wasser. Angesichts der Paris-Dakar-Ausrüstung bekomme ich wieder einen kurzen Du-wirst-mit-deinen- Timberlands-sterben- Flash.
»Hello, my name is Âke«, stellt sich Herr Andersson vor. Er strahlt diese ungekünstelte Freundlichkeit aus, die es nur auf dem Dorf gibt. Im Gegensatz zu seinem Wagen sieht der schlaksige Einsneunzig-Mann nicht besonders geländegängig aus: Seine dünnen Beine stecken in einem Paar hellgelber Gummistiefel; dazu trägt er eine Anglerweste, auf die ungefähr siebzehn Taschen verschiedener Größe aufgenäht sind. Alles in allem wirkt er wie jemand, der gleich im Garten Unkraut zupfen oder eben Angeln gehen will. Ich schätze ihn auf fünfunddreissig, vielleicht auch vierzig, hinter dem dichten Hippiebart lässt sich das nur schwer erkennen. Wir steigen ein, und mein Chauffeur braucht ganze drei Versuche, bis er mit ungelenken Bewegungen das Zündschloss entriegelt
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